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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege
Autoren: Heimito von Doderer
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geöffnet und hörte aufmerksam zu.
    Es lag nach alledem nahe, sich an diesem freien Vormittage einmal ruhig ans Klavier zu setzen. Mary hatte unter Gretes Leitung im Laufe des letzten Jahres drei Chopin'sche Etuden und einiges von Schumann studiert.
    Da sitzt sie also am Klavier, diese seit heute Morgen eigentlich recht einsame Frau und läßt die silbernen Meditationen erklingen; die Umgebung ordnet sich, es kommt ein System in diese Einsamkeit, von welchem man beinahe glauben könnte, daß es sogar in die chaotische Stadtmasse ringsum auszustrahlen vermöchte, mindestens aber die nahen Dämonen zu bändigen durch die orphische Macht der Töne.

    Es ist möglich, jemandem fundamental zu raten. Niemals fast kann ein solcher Rat angenommen werden. Denn einmal so weit gekommen, daß die Lage eines Rates bedarf, ist meistens auch schon das eine oder andere Rad oder Rädchen im Getriebe locker, und der in ihm befangene Mensch starrt gebannt in diese nun ganz bewußt herausgeleuchtete gestörte Apparatur des Lebens, das ihm jetzt von ihr abzuhängen scheint, statt umgekehrt, was eigentlich normal wäre. Daher kann der Rat lediglich mehr in bezug auf den Apparat gegeben werden – nur ein unbefangenes Neu-Herantreten an diesen vermöchte seine bloß relative Wichtigkeit zu enthüllen – und so muß es bei einem kleinen Rat bleiben, einem Rätlein, einem Rätchen in bezug auf die Rädchen, welche sich wie toll drehen, weil sie nun einmal aus dem Ganzen zu sehr herausgelockert worden sind. Ein kleiner Rat, ein Kniff. Dilatorische oder palliative Mittelchen. Mit allerlei Abwechslung, je nach der Situation: als deren Produkte, und nicht als nur eine von den kleinen Wellen aus gleichbleibenden fundamentalen Quellen. Auch der Ratende hat die Richtung verloren; und das Steuer schon gar und längst.
Seit dem Sommer des Jahres 1921 hatte Frau Mary der Grete Siebenschein im Grunde anderes kaum mehr zu bieten. Das heißt also, seit dem Ende von Gretes halber Verlobung mit dem kleinen E. P. und dem Beginne ihres engen Verhältnisses zu René Stangeler. Den ersten kannte Mary, denn Grete hatte ihn ein oder das andere Mal heraufgebracht; den zweiten hatte sie auch schon gesehen, aber eben nur dies, auf der Stiege, auf der Straße neben Grete; zusammengenommen mit dem, was sie von dieser über ihn sonst noch erfuhr und was ihr Gretes nicht selten fast verzweifelte Verfassung sagte, schien er ihr durchaus der geeignete Mann zu sein, um die junge Freundin mit Sicherheit vollkommen unglücklich zu machen.
Immerhin, Grete Siebenschein hatte an dem Punkte, wo wir jetzt halten, nämlich im Nachsommer 1923, das achtundzwanzigste Lebensjahr schon überschritten.
Nein, er gefiel Frau Mary nicht, der ungefähr gleichaltrige René, und sie wünschte auch nicht, ihn kennenzulernen: als hoffte sie hintergründig noch immer, daß diese Verbindung in absehbarer Zeit sich wieder lösen würde, als wollte sie da nicht durch ihre eigene Person eine Klammer mehr noch bilden: genug, daß Stangeler schon unten bei Siebenscheins zeitweise ein und aus ging und daß sich allmählich bereits das Gewicht des Familiären auf Grete und ihren Liebhaber zu legen begann, die beiden gleichsam noch enger aneinander pressend. Nein, er gefiel ihr wirklich nicht! Seine Augen standen etwas schräg und die Backenknochen waren irgendwie magyarisch oder zigeunerisch. Einmal hatte sie ihn unten auf dem Platze vor dem Bahnhof gesehen, offenbar auf Grete wartend: er lümmelte mit dem Rücken gegen den Sockel des Uhrtürmchens, die Beine gekreuzt, die Hände in den Taschen, den Hut im Genicke. So auf offener Straße. Es lag Herausforderung in seiner Haltung. Sie erschien Mary keineswegs nachlässig und natürlich, sondern betont. Und dies war lächerlich, unsolid, wenig Vertrauen erweckend. Ihr eigener Bub, damals ein kleiner Untergymnasiast, hätte sich nicht so hingestellt: jener aber näherte sich den Dreißig. Ein Bursch aus gutem Hause obendrein, wie es hieß. Ein erwachsener Mensch. Ihr Mann war mit achtundzwanzig längst in einer selbständigen Lebensstellung gewesen. Von Stangeler hieß es, daß er noch studiere – allerdings erklärte sich das auch aus dem Militärdienst im Kriege und einer vierjährigen Kriegsgefangenschaft. Danach aber wäre es auch naheliegender gewesen, sogleich etwas Vernünftiges und Brauchbares anzufangen. Nun: Jeder wie er kann (beschränkt im gewöhnlichen Sinne war sie gar nicht, die Frau Mary!), aber sein Verhalten Grete gegenüber hätte
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