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Die Straße

Die Straße

Titel: Die Straße
Autoren: Cormac McCarthy
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bildete. Wo er einmal Forellen beobachtet hatte, wie sie sich in der Strömung wiegten und ihre vollkommenen Schatten auf den Steinen darunter verfolgten. Sie gingen weiter, der Junge stapfte hinter ihm her. Gegen den Wagen gestemmt, ging es in engen Kehren langsam bergauf. Hoch in den Bergen brannten noch Feuer, und nachts konnten sie deren tief orangerotes Licht im Rußgestöber sehen. Es wurde kälter, aber sie unterhielten nachts immer ein Feuer, das sie einfach brennen ließen, wenn sie morgens wieder aufbrachen. Er hatte ihre Füße in Sackleinen eingewickelt, das er mit Kordel festgebunden hatte, und bis jetzt lagen nur ein paar Zentimeter Schnee, doch er wusste, sie würden den Wagen zurücklassen müssen, wenn der Schnee viel tiefer wurde. Schon jetzt war das Gehen beschwerlich, und er blieb oft ste-hen, um auszuruhen. Schleppte sich, dem Kind den Rücken zukehrend, zum Straßenrand, wo er vornübergebeugt, die Hände auf die Knie gestützt, stehen blieb und hustete. Er richtete sich auf, seine Augen tränten. Auf dem grauen Schnee ein feiner Blutschleier.
     
    Sie kampierten an einem Felsblock, und er baute aus Stöcken und der Plane einen Unterstand. Er brachte ein Feuer in Gang, und sie machten sich daran, einen großen Haufen Strauchwerk für die ganze Nacht zusammenzusuchen. Dann saßen sie, in ihre Decken gehüllt, auf einer im Schnee aufgehäuften Matte aus toten Tannenzweigen, schauten ins Feuer und tranken den letzten Rest des Kakaos, den sie vor Wochen ergattert hatten. Es schneite wieder, langsam aus der Schwärze herabrieselnde Flocken. Er döste in der wunderbaren Wärme. Der Schatten des Jungen strich über ihn. Mit einem Bündel Holz in den Armen. Er sah ihm zu, wie er die Flammen anfachte. Gottes Feuerdrache. Funken stoben auf und erstarben im Sternenlosen Dunkel. Nicht alle letzten Worte sind wahr, und diese Wohltat ist, obwohl ihres Bodens beraubt, nicht weniger real.
     
     
    Als er gegen Morgen erwachte, war das Feuer bis auf die Glut niedergebrannt, und er ging auf die Straße hinaus. Alles war erleuchtet. Als kehrte die verlorengegangene Sonne endlich wieder. Der Schnee orangerot und zuckend. Ein Waldbrand, der vor dem bedeckten Himmel wie Nordlichter lohte und schimmerte, schob sich die wie Zunder brennenden Bergkämme über ihnen entlang. So kalt es auch war, blieb er doch lange Zeit dort stehen. Die Farbe rührte an etwas lang Verges- senem in ihm. Mach eine Liste. Sprich eine Litanei. Vergiss nicht.
     
     
    Es war kälter. Nichts regte sich in dieser Hochwelt. Über der Straße hing ein kräftiger Geruch nach Holzrauch. Er schob den Wagen weiter durch den Schnee. Jeden Tag ein paar Kilometer. Er hatte keine Vorstellung, wie weit es noch bis zum Gipfel sein könnte. Sie aßen sparsam und hatten ständig Hunger. Er stand da und blickte auf das Land hinaus. Weit unten ein Fluss. Wie weit waren sie gekommen?
     
     
    In seinem Traum war sie krank, und er pflegte sie. Der Traum weckte den Anschein von Aufopferung, aber er glaubte etwas anderes. Er hatte sich nicht um sie gekümmert, und sie starb irgendwo allein im Dunkeln, und es gab weder einen anderen Traum noch einen anderen Wachzustand noch eine andere Geschichte zu erzählen.
     
     
    Auf dieser Straße gibt es keine Männer, aus denen Gott spricht. Sie sind fort, ich bin allein, und sie haben die Welt mit sich genommen. Frage: Worin unterscheidet sich, was niemals sein wird, von dem, was niemals war?
     
    Dunkel des unsichtbaren Mondes. Die Nächte inzwischen nur geringfügig weniger finster. Am Tag umkreist die verbannte Sonne die Erde wie eine trauernde Mutter mit einer Lampe.
     
     
    In der Morgendämmerung auf dem Bürgersteig sitzende Menschen, halbe Brandopfer, in ihren Kleidern qualmend. Wie gescheiterte Selbstmörder einer Sekte. Andere kamen ihnen zu Hilfe. Binnen eines Jahres sah man Feuer auf den Bergkämmen und hörte irren Gesang. Die Schreie der Ermordeten. Bei Tag die entlang der Straße auf Pfähle gespießten Toten. Was hatten sie getan? Es könnte durchaus sein, dachte er, dass es in der Geschichte der Welt mehr Strafe als Verbrechen gab, aber das tröstete ihn nur wenig.
     
     
    Die Luft wurde dünn, und er dachte, dass der Gipfel nicht mehr weit sein konnte. Morgen vielleicht. Morgen kam und ging. Es schneite nicht mehr, aber der Schnee auf der Straße war fünfzehn Zentimeter tief, und den Wagen die Steigungen hinaufzuschieben war anstrengende Arbeit. Er dachte, sie würden ihn stehenlassen müssen. Wie
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