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Die Straße

Die Straße

Titel: Die Straße
Autoren: Cormac McCarthy
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Herd noch so gelb war wie an dem Tag, an dem man ihn gelegt hatte, weil seine Mutter es nicht ertragen konnte, ihn geschwärzt zu sehen. Der Boden von Regenwasser gewellt. Im Wohnzimmer die Knochen eines kleinen Tiers, zerstückelt und zu einem Häufchen geschichtet. An der Tür ein Trinkglas. Der Junge packte ihn an der Hand. Sie stiegen die Treppe hinauf und gingen den Flur entlang. Auf dem Boden standen kleine, feuchte Gipskegel. Die Holzlatten der Decke lagen frei. Er stand in der Tür seines Zimmers. Ein kleines Kabuff unter dem First. Hier habe ich geschlafen. Mein Bett stand an der Wand da. Nachts zu Tausenden die Träume einer Kinderphantasie zu träumen, herrliche oder schreckliche Welten, doch niemals die, die sein würde. Als er die Schranktür öff-nete, rechnete er halb damit, seine Kindersachen vorzufinden. Vom Dach fiel rohes, kaltes Tageslicht ein. Grau wie sein Herz.
    Wir sollten gehen, Papa. Können wir jetzt gehen?
    Ja. Wir können gehen.
    Ich habe Angst.
    Ich weiß. Es tut mir leid.
    Ich habe wirklich Angst.
    Schon gut. Wir hätten nicht herkommen sollen.
     
    Drei Nächte später wachte er in den Ausläufern der östlichen Berge in der Dunkelheit auf und hörte etwas kommen. Er hatte beide Hände seitlich neben sich. Der Boden zitterte. Es kam auf sie zu.
    Papa?, sagte der Junge. Papa?
    Pst. Alles in Ordnung.
    Was ist das, Papa?
    Es näherte sich, wurde lauter. Alles zitterte. Dann lief es unter ihnen durch wie eine U-Bahn, zog in die Nacht davon und war fort. Der Junge klammerte sich weinend an ihn, den Kopf an seiner Brust vergraben. Pst. Alles in Ordnung.
    Ich habe solche Angst.
    Ich weiß. Alles in Ordnung. Es ist weg.
    Was war das, Papa?
    Das war ein Erdbeben. Jetzt ist es weg. Uns kann nichts passieren. Pst.
     
     
    In jenen ersten Jahren waren die Straßen mit Flüchtlingen bevölkert, die ihre Kleidung wie ein Leichentuch trugen, Mund-schutze und Schutzbrillen aufhatten und in ihren Lumpen am
    Straßenrand saßen wie verarmte Luftschiffer. Ihre Schubkarren mit Ramsch beladen. Leiter- oder Handwagen ziehend. Die Augen hell in ihren Schädeln. Glaubenslose, leere Hülsen von Menschen, die die Landstraßen entlangwankten wie Migranten in einem Fieberland. Die Hinfälligkeit von allem und jedem endlich zutage getreten. Alte, quälende Streitfragen in Nichts und Nacht aufgelöst. Mit dem letzten Exemplar von etwas geht die ganze Gattung zugrunde. Macht das Licht aus und ist weg. Man brauchte sich nur umzuschauen. Nie mehr ist eine lange Zeit. Aber der Junge wusste, was er wusste. Dass nie mehr im Handumdrehen passiert war.
     
     
    Im grauen Licht des Spätnachmittags saß er am grauen Fenster eines verlassenen Hauses und las alte Zeitungen, während der Junge schlief. Die merkwürdigen Nachrichten. Die wunderlichen Anliegen. Um acht schließt sich die Schlüsselblume. Er betrachtete den schlafenden Jungen. Bringst du es fertig? Wenn es so weit ist? Bringst du es wirklich fertig?
     
     
    Sie hockten auf der Straße und aßen kalten Reis und kalte Bohnen, die sie schon vor Tagen gekocht hatten. Die schon zu gären begannen. Kein Platz, wo man ein Feuer machen konnte, das nicht zu sehen sein würde. Im Dunkeln und in der Kälte schliefen sie aneinandergeschmiegt zwischen den stinkenden Steppdecken. Er hielt den Jungen eng an sich gedrückt. So dünn. Mein Herz, sagte er. Mein Herz. Aber er wusste, dass es, auch wenn er ein guter Vater war, trotzdem durchaus so sein könnte, wie sie gesagt hatte. Dass der Junge das Einzige war, was zwischen ihm und dem Tod stand.
    Spät im Jahr. Er wusste kaum, welcher Monat. Er meinte, dass sie genug Nahrungsmittel hatten, um über die Berge zu kommen, aber man konnte es unmöglich genau wissen. Der Pass auf der Wasserscheide lag über fünfzehnhundert Meter hoch, und es würde sehr kalt sein. Er sagte, alles hänge davon ab, dass sie die Küste erreichten, doch wenn er nachts erwachte, wusste er, dass das alles leeres Gewäsch war, ohne Substanz. Es war gut möglich, dass sie in den Bergen umkamen, und das wäre es dann.
     
    Sie passierten die Ruinen eines Urlaubsortes und nahmen die Straße Richtung Süden. Entlang den Hängen meilenweit verbrannte Wälder und eher Schnee, als er gedacht hätte. Auf der Straße keine Spuren, nirgendwo etwas Lebendiges. Die feuergeschwärzten Felsblöcke auf den karg bewaldeten Hängen wie Konturen von Baren. Er stand auf einer Steinbrücke, wo das Wasser in einen Gumpen schlämmte und einen trägen, schaumig grauen Wirbel
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