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Die Straße

Die Straße

Titel: Die Straße
Autoren: Cormac McCarthy
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darauf zerging wie die letzte Hostie der Christenheit.
     
     
    Sie gingen weiter, die Plane über sich gezogen. Die feuchten grauen Flocken wirbelten und rieselten aus dem Nichts. Am Straßenrand grauer Matsch. Unter den durchweichten Asche-verwehungen rann schwarzes Wasser hervor. Auf den fernen Kämmen keine Freudenfeuer mehr. Die Blutsekten, dachte er, müssen sich allesamt gegenseitig vertilgt haben. Niemand war auf dieser Straße unterwegs. Keine Straßenräuber, keine Marodeure. Nach einer Weile kamen sie zu einer Autowerkstatt an der Straße, stellten sich in der offenen Tür unter und schauten hinaus auf den grauen Schneeregen, der in Böen vom Hochland herabwehte.
     
    Sie suchten ein paar alte Holzkisten zusammen und entzünde- ten auf dem Boden ein Feuer, und er fand ein paar Werkzeuge, leerte den Wagen und machte sich an dem Rad zu schaffen. Er zog den Bolzen, bohrte mit einem Handbohrer den Innen- ring aus und setzte eine neue Buchse ein, ein Stück Rohr, das er mit einer Metallsäge auf die passende Länge zugeschnitten hatte. Dann schraubte er alles wieder zusammen, stellte den Wagen auf die Räder und schob ihn über den Boden. Er lief ziemlich rund. Der Junge saß da und sah sich alles an.
     
     
    Am Morgen zogen sie weiter. Wüstes Land. Ein an ein Scheunentor genageltes Bärenfell. Räudig. Strähniger Schwanz. In der Scheune drei an den Balken hängende Leiber, vertrocknet und staubig zwischen den fahlen Lichtstreifen. Hier könnte es was geben, sagte der Junge. Hier könnte es Mais oder so was geben. Gehen wir, sagte der Mann.
     
    Am meisten Sorgen machten ihm ihre Schuhe. Das und das Essen. Immer das Essen. In einem alten, mit Schindeln verkleideten Räucherschuppen fanden sie einen Schinken, der an einem Spriegel in einer hohen Ecke hing. Er sah aus wie etwas aus einer Gruft Gehobenes, ganz vertrocknet und schrumpelig. Er schnitt ihn mit seinem Messer an. Im Inneren tief rotes und salziges Fleisch. Nahrhaft und gut. An diesem Abend brieten sie ihn in dicken Scheiben über ihrem Feuer, und die Scheiben köchelten sie zusammen mit einer Dose Bohnen. Später wachte er im Dunkeln auf, und ihm war, als habe er irgendwo in den flachen dunklen Hügeln Ochsenfelltrommeln schlagen hören. Dann drehte der Wind, und es herrschte nur noch Stille.
    In Träumen kam aus einem grünbelaubten Baldachin seine bleiche Braut zu ihm. Ihre Brustwarzen mit Pfeifenton geweißt, die Rippen weiß bemalt. Sie trug ein hauchdünnes Kleid, und ihr dunkles Haar war mit Elfenbein- und Perlmuttkämmen aufgesteckt. Ihr Lächeln, ihre niedergeschlagenen Augen. Am Morgen schneite es wieder. Kleine graue Eisperlen auf die Stromkabel über ihnen aufgezogen.
     
     
    Er misstraute alledem. Er sagte, die richtigen Träume für einen Mann in Gefahr seien Träume von Gefahr, und alles andere sei die Lockung der Trägheit und des Todes. Er schlief wenig, und er schlief schlecht. Er träumte, sie gingen durch einen blühenden Wald, wo Vögel vor ihnen herflogen und der Himmel von schmerzhaftem Blau war, aber er lernte, sich aus solchen Sirenenwelten herauszureißen. Und lag dort im Dunkeln, während in seinem Mund der unheimliche Nachgeschmack eines Pfirsichs aus einem Phantomobstgarten schwand. Er dachte, wenn er lange genug lebte, werde die Welt endlich ganz und gar untergehen. Werde, wie die sterbende Welt, welche die frisch Erblindeten bewohnen, langsam ganz aus dem Gedächtnis schwinden.
     
    Aus Tagträumen unterwegs gab es kein Erwachen. Er trottete weiter. Er hatte von ihr noch alles in Erinnerung, außer ihrem Geruch. Wie er neben ihr in einem Theater saß, vorgebeugt, um der Musik zu lauschen. Goldene Voluten und Wandleuchter und zu beiden Seiten der Bühne die hohen, säulenartigen Falten der Vorhänge. Sie hielt seine Hand in ihrem Schoß, und durch den dünnen Stoff ihres Sommerkleides konnte er den oberen Rand ihrer Strümpfe fühlen. Dieses Bild bewahren. Und nun schick ruhig deine Dunkelheit und Kälte, und der Teufel soll dich holen.
     
     
    Aus zwei alten Besen, die er gefunden hatte, bastelte er ein Räumgerät, das er mit Draht vor den Rädern des Wagens befestigte, um Hindernisse zu beseitigen, dann setzte er den Jungen in den Korb, stellte sich wie der Führer eines Hundeschlittens auf die hintere Querstange, und sie fuhren hügel-abwärts, wobei sie den Wagen in den Kurven wie Schlittenfahrer durch Verlagerung ihres Körpergewichts lenkten. Es war seit langem das erste Mal, dass er den Jungen lächeln
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