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Die Straße

Die Straße

Titel: Die Straße
Autoren: Cormac McCarthy
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der trockenen Erde unter den Felsen ihr Lager auf, und der Mann legte die Arme um den Jungen, um ihn zu wärmen. In die Decken gewickelt, sahen sie zu, wie das namenlose Dunkel kam, um sie einzuhüllen. Die grauen Konturen der Stadt verschwanden mit dem Einbruch der Nacht wie eine Erscheinung, und er zündete die kleine Lampe an und stellte sie an eine windgeschützte Stelle. Dann gingen sie auf die Straße hinaus, er nahm den Jungen bei der Hand, sie marschierten bis zur Hügelkuppe, dem höchsten Punkt der Straße, von wo sie über das dunkler werdende Land nach Süden blicken konnten und, im Wind stehend und in ihre Decken gewickelt, nach Anzeichen eines Feuers oder einer Lampe Ausschau hielten. Es war nichts zu sehen. Die Lampe zwischen den Felsen am Hang des Hügels war kaum mehr als ein Lichtpünktchen, und nach einer Weile gingen sie zurück. Alles zu feucht, um ein Feuer zu machen. Sie aßen ihre kärgliche Mahlzeit kalt und legten sich dann, die Lampe zwischen sich, in ihrem Bettzeug nieder. Er hatte das Buch des Jungen mitgenommen, aber der Junge war zu müde für eine Geschichte. Können wir die Lampe anlassen, bis ich eingeschlafen bin?, fragte er. Ja. Natürlich.
     
    Er brauchte lange, um einzuschlafen. Nach einer Weile wandte er sich dem Mann zu und sah ihn an. Sein Gesicht war im trüben Licht vom Regen schwarz gestreift, wie bei einem Schauspieler der alten Welt. Darf ich dich mal was fragen?, sagte er.
    Ja. Natürlich.
    Werden wir sterben?
    Irgendwann schon. Aber jetzt noch nicht.
    Gehen wir immer noch nach Süden?
    Ja.
    Damit wir es warm haben.
    Ja.
    Okay.
    Okay was?
    Nichts. Einfach nur okay.
    Schlaf jetzt.
    Okay.
    Ich puste die Lampe aus. Ist das okay?
    Ja. Das ist okay.
    Und dann später, in der Dunkelheit: Darf ich dich mal was
    fragen?
    Ja. Natürlich.
    Was würdest du machen, wenn ich sterben würde?
    Wenn du sterben würdest, würde ich auch sterben wollen. Damit du mit mir zusammen sein kannst?
    Ja. Damit ich mit dir zusammen sein kann.
    Okay.
     
     
    Er lag da und lauschte dem im Wald tropfenden Wasser. Muttergestein, das. Die Kälte und die Stille. Die Asche der vorigen Welt von den rauen, irdischen Winden in der Leere hin- und hergeweht. Herangeweht, verstreut und abermals herangeweht. Alles aus seiner Verankerung gelöst. Ohne Halt in der aschenen Luft. Getragen von einem Atemhauch, zitternd und kurz. Wenn nur mein Herz aus Stein wäre.
     
     
    Er wachte vor Morgengrauen auf und sah zu, wie der graue Tag anbrach. Langsam und halb undurchsichtig. Während der Junge noch schlief, stand er auf, zog sich seine Schuhe an und marschierte, in seine Decke gewickelt, zwischen die Bäume. Er stieg in einen Felsspalt ab, wo er sich hustend zusammenkrümmte und lange Zeit weiterhustete. Dann kniete er einfach in der Asche. Er hob das Gesicht dem erblassenden Tag entgegen. Bist du da?, flüsterte er. Werde ich dich endlich sehen? Hast du einen Hals, damit ich dich erwürgen kann? Hast du ein Herz? Hol dich der Teufel, hast du eine Seele? O Gott, flüsterte er. O Gott.
     
    Am Mittag des folgenden Tages durchquerten sie die Stadt. Der Revolver lag griffbereit auf der gefalteten Plane oben im Wagen. Er ließ den Jungen dicht neben sich gehen. Die Stadt war größtenteils ausgebrannt. Keinerlei Anzeichen von Le-ben. Autos auf der Straße mit einer Aschenkruste überzogen, alles von Asche und Staub bedeckt. Im getrockneten Schlick Fossilien. In einem Eingang ein ledrig mumifizierter Leichnam. Der dem Tag eine Grimasse schnitt. Er zog den Jungen näher an sich heran. Vergiss nicht, dass das, was du in deinen Kopf lässt, für immer dort bleibt. Vielleicht denkst du mal darüber nach.
    Aber manches vergisst man doch, oder?
    Ja. Was man behalten will, vergisst man, und was man vergessen will, behält man.
     
    Eine Meile von der Farm seines Onkels entfernt gab es einen See, wo sein Onkel und er im Herbst Feuerholz zu holen pflegten. Er saß im Heck des Ruderbootes und ließ seine Hand durch das kalte Kielwasser gleiten, während sein Onkel sich in die Riemen legte. Die Füße des Alten in ihren schwarzen Kinderschuhen gegen die Spanten gestemmt. Sein Strohhut. Die Maiskolbenpfeife zwischen seinen Zähnen und am Pfeifenkopf ein dünner, leicht schwingender Sabberfaden. Er drehte sich nach hinten, um das andere Ufer anzupeilen, klemmte sich die Ruderschäfte unter die Arme und nahm die Pfeife aus dem Mund, um sich mit dem Handrücken das Kinn zu wischen. Das Ufer säumten Birken, die sich bleich wie
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