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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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ins Bett legen sollte, die Hexenhausmänner nicht, und auch, was ich mir damals vorstellte unter dem bösen und dunklen Anderen, kann ich nur vermuten, meine Erinnerungen daran sind eher atmosphärischer Art. Es gab ja auch gar keine Sprache dafür.
    Es handelt sich, kurz gesagt, um die Geschichte der Maschinisierungsgrade unserer Sehnsucht. Erst ist es namenlos, später nennen sie es dann Liebe oder Perversion oder Glück oder Verbrechen, je nachdem, dabei ist es nur die zunehmende Maschinisierung der Sehnsucht. Die ganze Wetterau war ja ein Sehnsuchtsgebiet. Wie die ganze Welt. Dabei bin ich von der Kirche, der Schule, den Schriften um mich herum, vor allem aber auch den Gesprächen, insgesamt von der Sprache, die wir sprechen, immer nur dahingehend instruiert worden, daß der Mensch eine Person und ein eigenständiges Wesen und intelligent und seiner selbst bewußt und für sich selbst und die anderen verantwortlich und so weiter sei. Die Begriffe haben immer das genaue Gegenteil evoziert, aber ich habe es einfach nie verstanden. Die wahren Dinge für die Worte haben wir verloren, heißt es bei Sallust, vera vocabula rerum amisimus . Und da die Begriffe nie beschrieben, was wir tun, ließen sie vieles völlig unverständlich, und nicht nur das. Die Sprache tat einfach so, als seien wir nicht, was wir sind. Dabei sind wir alle gleich. Und selbst da, wo es unübersehbar hineinragt, werden Worte konstruiert wie Entwicklungsstufe. Oder Päderastie. Oder Analfixiertheit. Oder was auch immer.
    Die Wahrheit über John Boardman war, daß er in eines dieser Hexenhäuschen hineingeraten war, fünfzehn Kilometer von uns entfernt in Reichelsheim (oder Wölfersheim). Ob er bei seinen Gasteltern tatsächlich in einem Fachwerkhaus gelebt hat, kann ich nicht sagen, vielleicht war es auch eine Betonwohnung aus den sechziger Jahren gewesen. Aber ich habe mir im nachhinein immer ein solches Häuschen vorgestellt wie bei uns in der Altstadt. Genauer gesagt hatte John ja auch keine Gasteltern gehabt, sondern eben nur einen Gastvater. Zu welcher Kategorie dieser Gastvater gehörte, ob zur Kategorie »Sehnsucht« oder zur Kategorie »routiniertes Abarbeiten«, weiß ich nicht.
    Es fiel mir damals vermutlich eher schwer, mir überhaupt vorzustellen, daß gerade John Boardman, dieser schwabbelige Junge aus Amerika, Objekt der Begierde für eines unserer Hexenhausmännchen hatte werden können. Ich hatte wohl immer automatisch vorausgesetzt, daß diese es auf hübsche, schlanke, wohlgeformte Kinder oder Jugendliche abgesehen hatten, aber John – der Gedanke war nicht naheliegend für mich. Überdies waren das für mich alles nur theoretische Überlegungen, die sich aus keinerlei Erfahrungshorizont speisten. Ich wußte zwar, was John passiert war, aber ein Wort wie Hexenhausmännchen gab es ja noch gar nicht. So war ihm sein Einstieg in die Wetterau gleich ruiniert worden, oder vielleicht hatte ihm einfach auch der liebe Gott schon am Anfang das Wahrheitstürchen geöffnet, durch das John dann spähen durfte bzw. mußte. Ob das Hexenhausmännchen übrigens wirklich zugegriffen hatte, und wenn, wie fest, wie tief und wie endgültig, kann ich nicht sagen. Ich habe John nie danach gefragt. Ich mied dieses Thema damals komplett, nachdem ich davon erfahren hatte. Im nachhinein glaube ich, es war recht tief und auch ziemlich endgültig. John Boardman hatte dadurch einen Stoß erhalten, der ihn, trotz seinem großen Gewicht, ins Rollen brachte, auch wenn man ihm diese Bewegung, nämlich daß er gerade ins Rollen geraten war, noch nicht ansah. Am Ende war der Reichelsheimer oder Wölfersheimer vielleicht ganz restlos und zur tiefen Befriedigung in ihn eingedrungen, und die sechzehnjährige Seele und der sechzehnjährige Körper fanden erst einmal keinen anderen Umgang damit als – alles in sich hineinzustopfen und später dann hineinzurauchen.
    Kurz bevor John wieder aus meinem Blickfeld verschwand (er tauchte in der linken Szene in Friedberg unter, wohnte zum Schluß in irgendwelchen WGs und rauchte ziemlich viel Haschisch), umwehte seine Person für mich etwas, was mich sprachlos machte, nämlich jenes Geheimnis, an das ich nicht rührte und das ihn selbst größer werden ließ, ihn fast entrückte, einfach, weil nicht darüber gesprochen wurde und es dadurch immer deutlicher in den Vordergrund trat. Ich stellte mir den Reichelsheimer bzw. Wölfersheimer vor, wie er seinen Schwanz in Johns Arsch hineinschob, ich stellte mir Johns leeres Gesicht
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