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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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schien den Mann zu beleidigen, er sagte, er wolle hier aber ein Bier trinken. Ich sagte, du kriegst hier kein Bier, da ist die Tür. Er: Was soll das denn? Ich: Ich habe gesagt, du sollst dich verpissen, du dreckiges Arschloch.
    Natürlich hatte ich noch nie mit irgendeinem Gast so geredet. Ich war völlig außer mir.
    Das ist eine Unverschämtheit, sagte der Mann, aber er sagte es so, als sei er eine solche Form der Behandlung eigentlich gewöhnt und erwarte sie geradezu. Vielleicht hatte sich dadurch dieses Lächeln in sein Gesicht eingegraben. Er lächelte jetzt allerdings nicht mehr, sondern schaute zum Buffet, ob von dort Hilfe zu erwarten wäre. Ich kümmerte mich allerdings in keiner Weise um Harald Stipp, sondern stieß den Mann zur Tür. Lassen Sie mich in Ruhe, rief der Mann und wich zurück. Tatsächlichsiezte er mich. Ich stieß ihn immer weiter zur Tür, der Mann rief aber nicht um Hilfe, und ich wiederholte so etwas wie: Du dreckiger Wichser, hau ab, du verdammte Sau. Ich wurde immer heftiger, ich hätte ihn fast geschlagen, und wäre er nicht von selbst zurückgewichen, hätte ich ihn mit Sicherheit auf der Stelle verprügelt. Natürlich hatte ich auch noch nie einen Gast geschlagen. Ich hatte ihn jetzt an der Schwenktür und hieb ihm gegen beide Schultern, so daß er fast die drei Treppenstufen zur Hanauer Straße rückwärts hinuntergestürzt wäre. Draußen rappelte er sich auf, strich sich über seine Hosen und rief, er werde die Polizei holen, das lasse er sich nicht bieten. Ich stand mit meiner weißen Kellnerschürze aber bereits auf dem Trottoir und trieb den Mann, ihn immerfort weiter stoßend, Richtung Haagstraße, die zwanzig Meter entfernt mündete. Ich wußte genau, daß das seine Richtung war: die Altstadt. Der Mann wich zuerst rückwärts zurück, fiel dann in einen Laufschritt, rief aber weder um Hilfe noch Polizei, sondern wiederholte bloß, und zwar leise vor sich hin: Das … das lasse ich mir nicht bieten. Ich verfolgte ihn die nächsten Meter und war kurz davor, ihm ins Rückgrat zu treten, damit er endlich um die Ecke verschwinde, und schließlich verschwand er auch. Er lief über die Straße, überquerte die nächste Gasse und bog Richtung Kleine Köhlergasse ein, ohne sich noch einmalnach mir umzuschauen, obwohl er gar nicht wissen konnte, ob ich nicht noch hinter ihm war.
    Alles das passierte wie von selbst, ohne ein bewußtes Zutun, und es hatte höchstens zwanzig oder dreißig Sekunden gedauert. Ich kann heute gar nicht sagen, ob mir damals alles vor Augen stand, was diesen Mann betraf, und ich vergaß diese ganze Szene sofort wieder und erinnerte mich zwanzig Jahre nicht an sie, erst jetzt, seit etwa einem Jahr, seitdem ich wieder an John denke, den ich ebenfalls lange Zeit meines Lebens völlig vergessen hatte und der im Zuge der Ortsumgehung plötzlich wieder da ist, steht mir die Szene im Café vor Augen. Damals hatte ich diese Szene wieder komplett ausgeblendet. In die besagte Schwärze gehüllt.
    Ich hatte ja auch John die längste Zeit in diese Schwärze gehüllt.
    Erst fiel mir John ein, dann fiel mir alles Weitere ein. John ist wie das weißes Kaninchen bei Alice im Wunderland. Er hat mir das eigentliche Loch gezeigt.
    Wenn ich heute darüber nachdenke, ist mir am meisten der Automatismus bemerkenswert, mit dem ich den Mann vertrieb. Es geschah alles wie nach einem Programm. Es handelte etwas in mir, das tiefer lag als mein normales Bewußtsein der Dinge. Später einmal hat jemand eine in gewisser Weise ähnliche Geschichte erzählt, ebenfalls die Geschichte einervöllig automatischen Handlung: Dieser Mann war in einen Wald gegangen, mit einer Flasche Whisky, einer Handvoll Schlaftabletten und dem festen Vorsatz, sich umzubringen. Er kletterte zur Sicherheit auch noch auf einen Baum und setzte sich auf einen Ast, um irgendwann von ihm final herunterzufallen, zur Unterstützung der Todesabsicht. So saß er da, schluckte seine Tabletten und trank den Whisky, und irgendwann stürzte er also infolge seiner Benommenheit herunter und kotzte dann einen Teil der Tabletten wieder aus, woran vermutlich der Whisky schuld war. Beim Sturz verletzte er sich erheblich, überdies war er anschließend eine Weile ohnmächtig und wäre irgendwann gestorben, wäre er so liegengeblieben. Und dann passierte etwas, was den Mann anschließend immer wieder gewundert hat, etwas, das er sich nicht erklären konnte und das ihn, glaube ich, für den Rest seines Lebens endgültig desillusionierte
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