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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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dem Oberkörper, und meine Mutter sagte, ich sähe aus wie ein Jude an der Klagemauer. Vielleicht war Johns Winken etwas Ähnliches. Es konnte natürlich auch sein, daß er meiner Mutter beim Abschied gewunken hatte, und dann, als sie weggefahren war, war er in dieser Bewegung festgefroren, indem er sie einfach perpetuierte, ohne richtig zu bemerken, was er gerade tat.
    John wurde zunächst so etwas wie ein Haustier. Er war, abgesehen von seinen Schulzeiten, immer da, wie unser Yorkshire Terrier, den wir damals hatten. Kam ich nach der Schule nach Hause, holte mir ein Glas Milch und machte mir ein Käsebrot, konnte ich sicher sein, daß er am Küchentisch saß und wir uns miteinander unterhalten würden, während er aß. Wir gingen nach zwei Wochen zu einem Englisch-Deutsch-Gemisch über, später sprachen wirdann nur noch Deutsch, denn John lernte wirklich schnell, und er wurde auch bemerkenswert akzentfrei. Er liebte Konjunktive, Wenn   /   dann-Konstruktionen, überhaupt Hypotaxen etc., vielleicht, weil ihm letztere als anglophonem Sprecher besonders schwerfielen.
    Ich hatte inzwischen begriffen, daß John ein explizites Verhältnis zum Essen bzw. Fressen hatte. Er wußte genau, was er tat. Dieses Verhältnis hatte etwas Fetischhaftes. Er hielt sich an der Fresserei fest und ließ sie sich nicht nehmen oder ausreden, sondern stellte sich mit ihr gleichsam gegen die Welt und baute sich einen Schutzwall, der einen Innenraum umgab, zu dem keiner sonst Zugang haben sollte. Und obgleich er diesen Innenraum von seiner Umwelt tatsächlich weitgehend freihielt, redete er über diese seine Freßtaktik mit mir in gewisser Weise dennoch ganz offen. John legte sowieso immer Dinge offen. Und verhüllte sie dadurch zugleich auch wieder. John hatte einen ausgeprägten Hang zur Dialektik.
    Johns Sprechen war die Bewegung eines dauernden Bei-sich-Nachfragens und eines dauernden Bei-den-anderen-Nachfragens. So unaufdringlich John war, so sehr wurde er dadurch bestimmten Leuten unangenehm. Sie reagierten manchmal regelrecht unwirsch auf ihn. Die GIs, die bei uns auf der Terrasse saßen, hatten immer dezidierte Meinungen zudiesem und jenem, zu politischen Themen, zur geplanten Nachrüstung, zum Nato-Doppelbeschluß, zu den gesellschaftlichen Systemen in Ost und West, solche Meinungen hatten sie auf nahezu allen Gebieten. John Boardman dagegen äußerte sich zu solchen Meinungsthemen nie, er sprach gar nicht mit seinen Landsleuten und kam auch immer erst spät am Abend auf die Terrasse, wenn alles im Schatten lag oder bereits Nacht herrschte und die Amis längst fort waren. Er sprach statt dessen darüber, wie und warum die GIs und überhaupt solche Leute zu diesen Meinungen kommen, die man einfach hat. Er bohrte sich geradezu in diese Frage hinein, in dieses Warum .
    Ich begriff, daß diese Form von Reflexion John nicht nur schützte (indem sie ihn beweglicher als die anderen machte, denn in seinem Denken war nichts festgefügt), sondern daß sie ihn auch über vieles erhob, so daß er fast unberührt über den Dingen stehen konnte. Von seinen Altersgenossen war er sowieso meilenweit entfernt. Das kombinierte sich für mich mit der schlechten Rolle, die er bei uns an der Schule spielte. In den Augen meiner Mitschüler war John ein dickes Kuriosum, das nicht in Frage kam. Er würde hier mit Sicherheit keine Freundin haben infolge seiner Schwabbeligkeit, er konnte nicht Fußball spielen, überhaupt sprach man eigentlich nur aus Mitleid mit ihm, die Lehrerstanden ihm mißtrauisch gegenüber. Unter alldem hätte John Boardman eigentlich leiden müssen. Mir kam es aber so vor, als sei dieses Enthobensein wie ein Sieg. Natürlich hatte das alles auch einen Traurigkeitshintergrund. John Boardman, dieser dicke Kerl in unserem Haus, der wie geschaffen war, eine Welt in sich hineinzufressen, um von ihr verschont zu bleiben, so wie der Stopfkuchen von Wilhelm Raabe, war stets von Melancholie umgeben. Vielleicht bemerkte er sie gar nicht, vielleicht bemerkte nur ich als Außenstehender sie. Diese Melancholie gab seinem Leben fast etwas Poetisches, wie bei einem Gedicht, und dadurch eine Aura, die von diesem für mich damals längere Zeit unergründlichen Traurigkeitshintergrund bestimmt war. Ich schob es zunächst übrigens nicht auf irgendwelche Erlebnisse, die er vielleicht irgendwann gehabt hatte und die ihn möglicherweise so hatten werden lassen. Ich sah darin einfach seine Person, seine Wesensart. Er war für mich so. Das ließ ihn
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