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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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seltsam verklärt in meinen Augen erscheinen, diesen John. Er verlor dadurch übrigens auch seine Häßlichkeit oder Formlosigkeit für mich. Manchmal betrachtete ich ihn und dachte, gegen ihn sind eigentlich alle anderen lächerlich. Weil die anderen einfach so ihr Leben lebten. Weil da etwas war, das seiner Existenz eine Art Tiefenstruktur gab, ebenjene unergründliche Grundierung. Ich hatte zwar lange Zeit keine Ahnung,worin sie bestehen mochte. Aber es hatte mit dieser Traurigkeit zu tun, die von ihm ausging. Sie nahm mich für ihn ein, auch wenn ich die Sympathie für ihn damals kaum hätte in Worte fassen können. Er war so etwas wie das Urbild des Schmerzes in meinem Leben, grundlegender noch als früher H. oder H.s Vater oder der nackte Junge, den ich zweimal im Fenster gesehen hatte.
    Eines Tages stellte ich erstaunt fest, daß John rauchte. Offenbar hatte er von einem auf den anderen Tag damit angefangen. Draußen auf dem Balkon stand jetzt ein Aschenbecher. Er rauchte vom ersten Augenblick an massenhaft. Er verschlang sofort genauso maßlos Zigaretten, wie er die Nahrungsmittel aus unserem Kühlschrank verschlungen hatte, als ich ihn das erste Mal sah.
    Ich wußte über John zunächst natürlich überhaupt nichts. Ich hätte es damals auch erst einmal nicht verstanden. Ich wußte noch nichts von dem Phänomen der Schwärze, also daß wir Teile von uns stets in die besagten schwarzen Löcher stecken. Und ich wußte nicht einmal, daß ich davon nichts wußte.

J ohns Geschichte kann ich nur verstehen, wenn ich von damals ein paar Jahre in die Zukunft schaue, in mein zwanzigstes Lebensjahr. John Boardman hatte ich zu dieser Zeit völlig vergessen, er war schon lange nicht mehr in Deutschland.
    Ich arbeitete damals im Friedberger Literaturcafé. Dort verkehrten meist Linke, Studenten, auch ehemalige Studenten, die inzwischen Taxi fuhren, einige alte Juzler gingen ebenfalls dorthin. Ich machte die Arbeit gern. Irgendwann kam ein alter Mann herein, von dem ich nicht sagen kann, ob er vorher schon einmal dagewesen war. Zumindest hatte er das Literaturcafé bislang nicht betreten, wenn ich dort gearbeitet hatte. Er paßte nicht ins Literaturcafé. Der Mann war ziemlich klein, trug Stoffhosen, wie sie die vorigen Generationen getragen hatten, und sah von seiner Kleidung her insgesamt ein wenig aus wie mein Onkel J. Eine graubraune Gestalt. Einen Hut trug der Mann nicht, aber es hätte gepaßt: ein kleiner, alter, schäbiger Hut. Ich sah den Mann zunächst nur aus den Augenwinkeln und beachtete ihn nicht weiter, solange er sich einen Platz suchte. Ich bemerkte aber, daß er nicht wußte, woer sich hinsetzen sollte. Überhaupt schaute er eine Weile herum. Vermutlich war er wirklich noch nie hier gewesen. Aus irgendeinem Grund sagte ich mir, er sieht aus wie ein typischer Altstadtbewohner. Der Gedanke war insofern etwas unlogisch, als die Leute Richtung Vorstadt zum Garten und die unweit der Seewiese ebenfalls so aussahen.
    Der Mann schaute also eine Weile unschlüssig herum, und ich dachte, eigentlich geht so jemand eher ins Licher Eck oder in irgendwelche Kaschemmen in der Altstadt, sitzt dort herum, raucht, trinkt Bier und schaut aus dem Fenster auf die Straße. Nur manchmal verirrten sich solche Leute hierher, gingen aber schnell wieder. Schließlich blieb ich vor ihm stehen und sah ihn an. Der Mann hatte etwas durchweg Schmieriges an sich, und er lächelte. Das Lächeln war ebenfalls schmierig. Er lächelte wahrscheinlich gar nicht mit Absicht, vermutlich hatte sich dieses widerliche Lächeln einfach in sein Gesicht eingegraben. Ein Lächeln, hinter dem ein durchweg schmieriges und widerliches Leben stecken mochte, dachte ich. Hinter dem Buffet stand Harald Stipp, einer der Pächter des Cafés, und verfolgte die Szene zunächst nicht weiter. Er war damit beschäftigt, irgendwelche Assam- oder Darjeelingtees in Tonkännchen zu füllen. Im Literaturcafé gab es das Teepublikum, das Bierpublikum und das Rotweinpublikum. Nachmittags war eher das Teepublikum da, irgendwelche Schüler oder Frauengruppen.
    Der Mann sah mich an, hob die Augenbrauen, wiederum auf unangenehme Weise, und fragte, ob er ein Bier trinken könne.
    Und dann tat ich etwas, das völlig automatisch vor sich ging und urplötzlich geschah. Ich geriet von einem Augenblick auf den anderen in einen merkwürdigen Zustand, ich wurde wütend, vielmehr sogar aggressiv und sagte dem Mann, er solle auf der Stelle das Lokal verlassen, und zwar sofort. Das
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