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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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glockenhell ausgesprochen. Er hatte eine schöne Stimme. Sie wirkte beruhigend, und mir schien, daß sie, je besser er Deutsch sprach, einen desto schöneren und weicheren Klang bekam.
    John erwies sich am ersten Schultag als nicht besonders anhänglich, zumindest bei mir nicht. Auf dem Schulhof wechselten wir nur einige Worte. Es dauerte ein paar Tage, bis er Interesse an mir zu finden schien. Zu Hause sah ich ihn, wie er, frisch geduscht, durch den oberen Stock lief, nicht um sich in die Bibliothek zu begeben, sondern um meine Mutter zu suchen, nur mit dem Handtuch bekleidet und ansonsten vor sich hin schwabbelnd. Ich weiß nicht, was vonstatten ging, wenn er bei meiner Mutter war (ich war zu dieser Zeit tagsüber selten zu Hause), ich weiß nur, daß sie sehr bald folgenden Verzweiflungsmonolog hielt:
    Das ist nicht mehr auszuhalten. Immerfort läuft er mir nach! Durch das ganze Haus läuft er mir nach! Gehe ich nach unten in den Keller an die Mangel, läuft er mir hinterher und bleibt neben der Mangel stehen, gehe ich hinunter, um Wäsche aufzuhängen, läuft er mir auch nach! Gehe ich in die Küche, kommt er hinterher, er hat sogar schon versucht, mir ins Bad hinterherzulaufen. Wenn ich zum HLfahre, kommt er mit, dann läuft er wie ein Kleinkind durch den HL und schaut sich alles an, als sähe er es das erste Mal, und er faßt auch alles an. Er nimmt es immer in die Hände, und ich sage dann, John, stell das wieder zurück. Als sei er drei Jahre alt. Er nennt mich permanent Mama! Ich sage ihm, er soll doch mal nach draußen gehen, er soll mal mit euch ins Schwimmbad gehen oder er könnte doch überhaupt mal mit dir oder deiner Schwester rausgehen, aber er sagt dazu gar nichts und bleibt einfach da und läuft mir dann wieder nach, auch wenn ich nur von einem Raum in den nächsten gehe. Manchmal ist die einzige Möglichkeit, daß ich mich ins Wohnzimmer setze und den Fernseher anschalte. Ich würde mich aber auch gern mal wieder ins Bett legen und dort fernsehen, aber dann muß ich die Tür vom Schlafzimmer abschließen, und wenn ich das tue, merke ich, wie er vor der Tür steht und ein-, zweimal die Klinke betätigt, um zu schauen, ob nicht doch offen ist.
    Was meine Mutter sagte, wurde durch eine Szene veranschaulicht, die ich eines Tages erlebte. Ich betrat das Haus, John Boardman begrüßte mich freundlich an der Tür (er war zufällig im Vorraum), ließ sich aber von mir nicht beirren in dem, was er gerade tat: Er lief auf und ab, langsam, aber stetig (ebenso langsam und stetig, wie er immer aß), und rief Mama, Mama … Er lief einmal im ganzenunteren Stock im Kreis, durch den Flur, ins Wohnzimmer, dann ins Eßzimmer, dann vollendete er die Runde durch die Küche und den Hausarbeitsraum bis zum Vorraum zurück, lief in den oberen Stock und rief dabei immerfort Mama, Mama … Wie ein aus dem Nest gefallener Jungvogel, der nach seinen Eltern ruft, damit sie ihn finden, so rief er nach meiner Mutter.
    Einmal kam ich nach Hause und stand am Hoftor, da sah ich ihn auf dem Balkon, der über der Garage lag. Er stand dort in einem weißen Hemd und winkte auf seltsame Weise zu mir her. Er war eigenartig klein und wie entrückt dort oben auf der Garage. Als ich näher heranlief, dachte ich, vielleicht ist dieses Winken (er beendete es nicht) gar nicht auf mich bezogen, sondern er macht es einfach nur so. Ich schloß die Haustür auf, lief in den ersten Stock, malte mir bereits aus, daß John vielleicht nur dieses Hemd trug und sonst wieder mal nichts – aber John trug tatsächlich ordnungsgemäß eine Hose, stand immer noch am Balkongeländer, mit der Brust zur Einfahrt und zur Straße, dem Mühlweg, und winkte weiter, mit beiden Armen, wie jemand, der ein Flugzeug einweist.
    John, what are you doing, fragte ich.
    Er drehte seinen Kopf zu mir, während er weiter seine Arme über sich hin und her bewegte, und schaute mich völlig überrascht an, als hätte er michvorher gar nicht gesehen, weder am Hoftor noch in der Einfahrt. Er winkte eine Weile weiter, dann ließ er die Arme sinken. Vielleicht war es eine Art Sport. Vielleicht wollte er mit diesem Gewinke einfach nur die Zeit füllen. Seine Zeit in Deutschland, seine Zeit in der Wetterau, wenigstens einen Teil davon, eine Viertelstunde auf dem Balkon, vielleicht nur fünf Minuten. Immerhin fünf Minuten. Ich dachte an früher, als ich immerfort meinen Kopf auf dem Kissen hin und her gewälzt hatte, wenn ich im Bett lag. Noch in späteren Jahren wippte ich oft mit
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