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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Sprachgebiete (was ich früher nie verstanden hatte). In Wahrheit sprachen sie nämlich andauernd vom Beischlaf, wenn es um den GI bei uns im Wohnzimmer und meine Schwester ging. Aber sie benutzten ganz andere Wortlaute. Auch hier mußten sie erst durch mehrere Sprachebenen hindurch. Es hieß beispielsweise nicht: Wenn meine Schwester Besuch bekomme, müsse jemand im Wohnzimmer sein. Schon dieses müssen wäre zu explizit gewesen. Natürlich war von Anfang an klar, daß jemand dort saß, bis der Amerikaner wieder gegangen sein würde. Das mußte gar nicht ausgesprochen werden. Ein Ersatzwort für dieses im Zimmer bleiben müssen war aber etwa: unterhalten . Mein Vater sagte dann, es sei doch ganz natürlich, wenn der Besuch der Schwester sich auch mal mit den Eltern unterhalte . Das eigentliche Wort war Aufsicht, aber es wurde nicht benutzt.Und was die Aufsicht verhindern sollte, war der Beischlaf. Dieses Wort und alle seine Übersetzungsmöglichkeiten hatte ich in meinem Elternhaus nie gehört, dabei wäre schon das Wort Elternhaus ja ohne das Wort Beischlaf gar nicht möglich. Und genau das, was doch offenbar für meinen Vater eine geradezu weltbestimmende Hauptsache war, wurde komplett nicht erwähnt, ein Leben lang nicht, als wäre es eigentlich gar nicht. Als müsse es völlig aus der Welt ausgeschlossen werden, um gebändigt zu sein. So war die sprachliche Welt meiner Eltern ein ganzes Leben lang eine Welt ohne Beischlaf, und ich spürte, wie durch die totale Abwesenheit dieses Wortes (oder seiner Umschreibungen) dieses Wort totale Allmacht über sie hatte. Nicht anders hätte ein orientalischer Stammesfürst aus Tausendundeiner Nacht in seinem Zelt sitzen und seine Töchter beaufsichtigen können, als es mein Vater in unserem Wohnzimmer im Mühlweg mit meiner Schwester tat. Und tatsächlich sah ich dort im Wohnzimmer ein Bild vor mir, das geradezu märchenhafte Züge aufwies: Die drei Gestalten saßen da, über ihnen schien ein Bann zu liegen, und alles in diesem Zimmer war plötzlich wie mit einer anderen Bedeutung aufgeladen. Bei dem orientalischen Märchenfürsten hätten vielleicht Datteln oder Feigen auf dem Tisch gestanden, in einer kostbaren Schale, oder die anwesenden Personen hätten alle auf Teppichen gelagert, ein Diener hätte duftendes Hammelfleisch oder irgend etwas anderes hereingebracht, und die Tochter hätte auf einem Instrument irgendwelche Melodien gespielt, wodurch der Vater hätte dem Bewerber zeigen können, welch teure Ausbildung seine Tochter genieße, kurz, was er in sie investiert habe, um sie heiratsfähig zu machen. Die Szene in unserem Wohnzimmer im Mühlweg, mitten in der Wetterau, kam mir genauso exotisch vor, der einzige Unterschied war, daß man jeden Gegenstand dieses orientalischen Bildes ins Oberhessische übersetzen mußte: Statt des Zeltes das Wohnzimmer, statt der Datteln und Feigen Fischlis und Salzstangen, statt der kostbaren Teppiche die trostlose Couch, statt des orientalischen Duftes und der wallenden Wände des Zeltes (ein blauer Himmel darüber) die deutsche Siebziger-Jahre-Tapete, die verschlossenen Rolläden, das eingeschaltete Kunstlicht der Glühbirnen und natürlich der Fernseher, der hier vielleicht die Rolle der melodischen Untermalung vertrat und es gleichzeitig überflüssig machte, daß die Tochter noch eine musische Ausbildung hätte haben müssen. Der Hauptunterschied zwischen diesen beiden märchenhaften Gesellschafts- oder Familienszenen, der orientalischen und der wetterauischen, bestand für mich allerdings in der bodenlosen Trostlosigkeit der Wetterauer Version. Sie hatte nicht einmal die Kostbarkeit der Rituale, und das Festlichste an derganzen Situation (an deren Ende ja auch die Vermählung und der schließlich gestattete und nun rechtmäßige Beischlaf hätte stehen können) waren ebenjene Cerealien auf dem Tisch. Der Weg war beschrieben und vorgezeichnet vom Fischli bis zum Ehebett.
    Gegen halb elf Uhr abends ging der betreffende GI dann stets, gab meiner Schwester zum Abschied die Hand und wurde anschließend von meinem Vater in seinem Dienstwagen in die Kaserne zurückgefahren.

A WHITE RABBIT WITH PINK EYES

E ines Tages hieß es, ein amerikanischer Gastschüler komme zu uns ins Haus. Diese Nachricht elektrisierte meine Schwester förmlich. Kein Soldat, sondern ein Gleichaltriger, ein Schüler wie sie, er würde bei uns wohnen, er würde gemeinsam mit uns essen, er würde auf dieselbe Schule gehen wie wir, er würde ständig dasein.
    Ein
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