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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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und ihm sein eigenes Leben noch widerlicher machte. Der Augenblick auf dem Ast, das Schlucken der Tabletten und das Hinunterstürzen des Whiskys seien ein Triumph gewesen. Das anschließende Debakel allerdings war viel größer, als er je erwartet hätte. (Er hätte ja auch gefunden und so gerettet werden können.)
    Im Wald, auf dem Boden, betäubt und verletzt, hatte er das Zeitgefühl völlig verloren, er konnte später nicht sagen, wie lange er dort gelegen hatte,insgesamt war er drei Tage nicht auffindbar (die Polizei hatte nach ihm gesucht). Und irgendwann geschah es dann, daß er zu kriechen begann oder, besser gesagt, zu robben. Seine Beine konnte er nicht bewegen, also robbte er auf den Ellbogen, und er sagte, nicht er sei gerobbt, irgend etwas sei gerobbt. Erst seitdem wisse er, wie scheußlich groß und quasi überpersonal dieser Lebenswille sei, ein grober, brutaler, automatischer Wille, der zu handeln beginne, ohne daß es noch etwas mit einem selbst zu tun habe. Das Leben habe gerobbt, nicht er. Das bloße, nackte, der Person entkleidete Leben. Er robbte aus seiner Kotzlache heraus und bewegte sich im Schneckentempo, eigentlich ohnmächtig, zumindest nicht bei Sinnen, kroch einfach los, und das die ganze Zeit, immer wieder einschlafend, immer wieder robbend. Mit derselben bewußtlosen, zähen Kraft, die auch Säuglingen eigen ist schon im Augenblick nach der Geburt.
    Genauso blind handelte ich damals, als ich diesen Mann aus der Wirtschaft warf. Ich legte mir in diesem Moment keine Rechenschaft darüber ab. Etwas in mir begann um sich zu schlagen, so wie der Selbstmörder losrobbte und der Säugling mit eiserner Gewalt den hingestreckten Finger umklammert hält, um daran zu saugen. Wobei meine Blindheit jener Schwärze geschuldet war, die ich damals noch nicht begriffen hatte, obgleich ich schon neunzehnJahre alt war. Die Schwärze wurde höchstens dadurch durchscheinend, daß ich genau wußte, daß der Mann Richtung Altstadt streben würde, zu seinem Haus. Erzählen kann ich mir die Geschichte erst heute. Nicht weil ich vorher keine Worte dafür gehabt hätte. Sondern weil diese Geschichte vorher schlichtweg nicht existierte. Sie kam erst durch John wieder. Sie kam, als ich Johns Geschichte endlich verstand. Und noch heute wird es mitten in meiner Geschichte schwarz. Ich weiß noch nicht einmal, wie oft das überhaupt in jenen Altstadthäuschen passiert ist.
    Wie gesagt, das war vermutlich im vierten Schuljahr, vielleicht noch im dritten. Die Geschichte selbst ist übrigens nicht außergewöhnlich, das merkt man schon daran, daß Harald Stipp überhaupt keine Probleme damit hatte, daß ich diesen Typ hinauswarf. Er hatte die Geschichte vermutlich von Anfang an begriffen, und das kann nur bedeuten, daß er sowieso davon ausging, daß das immerfort bei uns passierte. Der Kerl war wirklich widerlich, aber auch darum geht es nicht. Es geht nur um diesen einen Punkt: die Schwärze. Daß es Dinge in uns gibt, die wir einfach völlig, und zwar lange Jahre, ausblenden, offenbar einer Art Überlebensmechanismus folgend. Und plötzlich geht eine Tür auf, und alles ist da, down the rabbit-hole.
    Damals, als John bei uns war, lebte ich ein eigentlich ziemlich normales Leben. Ich war gern mit Mädchen zusammen, träumte in meinen Tagträumen von ihnen, und manchmal lief ich Hand in Hand mit einem davon durch die Gegend, war verliebt und hatte in meinem Kopf ausschließlich das, was in allen Beschreibungen eines solchen Alters vorkommt. Ich war für mich ein völlig unbeschriebenes Blatt. »Erstmals erkundete ich die Welt«, das wäre so ein Satz für die stereotype Beschreibung meines damaligen Alters. Im nachhinein weiß ich, daß diese Jungfräulichkeit niemals existiert hat, wie bei allen von uns. Daß wir uns aber in diesem Alter alle so vorkommen, ist auch wieder wie das Greifen des Säuglings nach dem Finger und das Saugen daran. Es ist dieses bloße »Leben«. Die Erzeugung der Schwärze ist offenbar eine Kraft dieses Lebens und ein überindividueller Teil davon.
    Heute kann ich wesentlich besser an meine Kindheit zurückdenken als damals, als ich dreizehn, vierzehn Jahre alt war und »die Welt erblühte« (inklusive der Mädchen). Aber es ist die Erzählung eines Vierzigjährigen. Damals existierte das für mich alles nicht. Ein Großteil dessen, was ich hier schreibe, hat lange Zeit nie existiert, auch die Kinderärsche nicht, auch nicht mein Finger in diesen Ärschen, nicht, daß ich mich zu der Mutter
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