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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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einfach. Bei jedem normalen Mordfall wurde das Motiv illustriert. Der Bankraubmörder erschoß die Leute beim Bankraub, das sah man. Der Heiratsschwindler und Erbschleicher vergiftete die betreffende ältere Dame oder ließ ihr einen Unfall oder sonst etwas zustoßen, um anschließend zu kassieren. Weshalb aber junge Frauen umgebracht wurden, blieb mir immer rätselhaft, denn der betreffende Film zeigte nichts dazu. Man sah die junge Frau vielleicht gerade noch wegrennen, aber dann war sie schon tot und lag herum, meistens mit weit aufgerissenen, erschrockenen Augen. Es geschah offenbar einfach so. Und dennoch wurde es so dargestellt, als müßte es geradezu zwangsläufig dazu kommen. Fürdas Fernsehpublikum waren also ausgerechnet die Filme, in denen man gar nichts sah, die, denen das scheußlichste Verbrechen überhaupt zugrunde lag. Offenbar wußten alle von diesem Verbrechen, nur ich nicht, es wurde einem ja nie erklärt. Der Gipfel des Verbrechens aber war der Mord an kleinen Mädchen. Das waren dann nur noch Monster. Ich kenne Frauen in meinem Alter, die noch heute nicht den Film Es geschah am hellichten Tag mit Rühmann und Fröbe sehen können. Fröbe, das Beispiel eines Mannes, mit dem ein Kind mitging, und dann war es tot und lag im Wald, einfach so. Für alle hatte das einen Grund, für mich nicht, er wurde nicht genannt, aber ich akzeptierte das ebenso, wie ich vor der Lektüre Kants stets einen weitaus laxeren Umgang mit synthetischen Urteilen a priori pflegte. Fröbe war so ein synthetisches Urteil a priori . Wenn ein schwarzer Mann auf ein kleines Mädchen trifft, folgt daraus der Tod des kleinen Mädchens. Auch der Tod des kleinen Jungen, aber das gab es im Film noch nicht. Das wurde mir immer nur erzählt.
    Vor draußen und der Straße wurde stets gewarnt, als ich klein war. Entweder man wurde überfahren, nämlich von den Autos, oder man wurde auf jene ominöse Weise entleibt. Einmal geriet die ganze Nachbarschaft in Aufruhr, sammelte sich zu einer Gruppe, begann zu patrouillieren und einer jener dunklen Gestalten aufzulauern. Wenn manvon unserem Hoftor aus die Straße entlang nach rechts an der alten Steinwerkefabrik vorbeiging und auch noch die Schaffell-Fabrik Schäfer hinter sich gelassen hatte, stand man unter den vierundzwanzig Hallen, unserem Eisenbahnviadukt, das sich in riesigem Schwung über das Rosental zog. Dort standen nicht eine, sondern zwei Eisenbahnbrücken, einmal das alte Viadukt aus dem vorvergangenen Jahrhundert, das Rosenthalviadukt, prächtig aus Sandstein mit Ornamentformen gearbeitet, es kündete vom Stolz der ersten Eisenbahnzeit, als alle noch ein Pioniergefühl hatten. Daneben stand eine neuere Brücke, eine erste Maßnahme der Verkehrserweiterung. Die alte Brücke war inzwischen marode und geschlossen. Bald würde zwischen beide eine dritte gebaut werden, dann aus Beton und nur noch rein funktional. Die große Brache unter den Brücken war verschattet, nicht nur von den Viadukten selbst, sondern auch von dem großen Gebüsch und den Bäumen, die an der Usa wuchsen. Das Gebiet galt als gefährlich. Als ich siebzehn war, wurde dort zum letzten Mal eine Frau umgebracht, übrigens angeblich von einem schwarzen GI in Joggingkleidung, der einige Wochen als der »farbige Jogger« durch unsere Heimatzeitung geisterte und dessentwegen eine Zeit lang Fahndungsposter mit einer Phantomzeichnung am Bahnhof hingen. Auch in meiner Kindheit geschahen dort Dinge, und einmalnun also war passiert, daß meine Schwester mit einigen Freundinnen nach Hause kam und von einem Mann erzählte, den sie dort gesehen hatten. Das war offenbar einer von denen, vor denen immer gewarnt wurde. Der Mann war hinter einem Gebüsch hervorgetreten, hatte seinen Mantel geöffnet, hatte keine Hosen an und war ein Exhibitionist, ein Wort, das ich damals zum ersten Mal hörte. Ich lernte: Es gab Männer (ich hatte schon immer vermutet, daß sie Mäntel trugen, um sich zu verbergen), die in Ecken und Winkeln auf eine Gruppe von Mädchen warteten, dann sprangen sie heraus und rissen ihren Mantel auf, so wie eine bestimmte Figur in der Sesamstraße immer ihren Mantel aufriß, um jemandem ganz geheime Dinge anzubieten, Buchstaben etwa. Der Buchstabenverkäufer in der Sesamstraße tat immer besonders sinister, von ihm kannte ich diese Geste des Mantelaufreißens. So stellte ich mir auch die Szene am Viadukt vor. Die Polizei wurde gerufen, und eine Viertelstunde später standen zum ersten Mal in meinem Leben Polizisten
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