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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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oder fünf Jahre gewesen. Sie konnten lesen und schreiben und rechnen und hätten sogar Aufsätze darüber schreiben können.
    Sie lebten in diesen zwei Welten, und die eine warvergessen, wenn der Rausch verebbte. Es war dann wie nie gewesen. Und obgleich sie Verbotenes taten, war dennoch völlig klar, daß alle Erwachsenen wußten, was sie taten, denn diese hatten es ebenso getan und dann ebenso wieder vergessen bzw. nicht mehr in Verbindung mit sich gebracht. Wenn ich heute Eltern erlebe, deren Kinder sich gerade gegenseitig zeigen und/oder hineinstecken, dann sehen sie darin immer nur jene Entwicklungsstufe, und wenn sie sich an sich selbst erinnern, dann auch nur in Form einer Erinnerung an eine Entwicklungsstufe. Als wären sie früher nicht sie selber gewesen, sondern eine Entwicklungsstufe. Als hätte die Entwicklungsstufe gehandelt, als sie handelten und öffneten und zeigten mit dieser Dringlichkeit, deren Ernst eines Erwachsenen würdig gewesen wäre, oder des Lebens überhaupt.
    Neulich saß ich bei einer Familie, und die Töchter kamen begeistert mit dem Mobiltelefon der Erwachsenen an und hatten sich gerade fotografiert und vor allem alle ihre Löcher. Die eine hielt ihren Hintern weit auseinander, und die andere ging ganz nah heran, sie waren sieben oder acht Jahre alt, wir saßen gerade im Nachbarraum, und dann war die andere Seite dran, und dann kamen sie, noch in ihrem Zustand, herein und kicherten. Sie waren einfach so begeistert, daß sie es mitteilen mußten, und daß sie es nun mitteilten, begeisterte sie noch um somehr, denn das war ja eigentlich verboten. Die Bilder wurden anschließend von den Eltern gelöscht, so schnell es ging.

S o lebten wir auf der einen oder auf der anderen Seite, je nach Zustand. Wenn ich mich an die allerersten Anfänge erinnere, so war diese andere Welt schon von Beginn an da und in meiner Umwelt enthalten, ich konnte sie nur noch nicht mit Vorstellungen füllen. Die Metaphern von Dunkelheit oder Schwärze oder Bösesein wurden dafür verwendet. Den Kindern wurde gleich am Anfang vermittelt, daß draußen Gefahren lauern, dunkler Art. Alle wurden gewarnt. Ich hatte natürlich keine Ahnung, wovor genau gewarnt wurde. Es hatte, das wußte ich, im weitesten Sinn mit den Menschen dort draußen zu tun, und zwar vor allem mit fremden Menschen. Von ihnen ging eine (für das Kind diffuse) Gefahr aus, so wurde uns verheißen. Man mußte sie meiden, man durfte ihnen nicht zu nahe kommen, nur war völlig unklar und eben dunkel, was passieren würde, wenn man ihnen zu nahe käme oder gar mit ihnen mitginge. Ich glaube, ich stellte mir so etwas wie ein Gesamtverschlingen meiner Person vor. Ging ich mit, würden sie mich irgendwohin führen und mich dann aufessen. Am Ende würde ich tot sein, nur konnte ich mir unterder Todesart nichts vorstellen, eben bis auf jenes merkwürdige Aufessen, von dem man mir erzählt haben muß. Das Lockmittel der fremden Person, es handelte sich ausschließlich um Männer, also des fremden Mannes, war etwas, das er einem »geben« wollte. Man sollte nichts annehmen. Nimm nie etwas von einem fremden Mann an, hieß es. In den ersten Jahren bin ich gar nicht in solche Situationen hineingeraten, also an die »fremden Männer«, das kam erst mit neun oder zehn Jahren am Ende meiner Grundschulzeit, deshalb blieb mir lange Zeit nur meine Phantasie, um mir einen solchen fremden Mann vorzustellen und was er wohl mit jemandem wie mir täte, wenn er auf mich träfe. Vermutlich lauerten die fremden Männer überall draußen in der ganzen Umwelt der Stadt Friedberg. Jeder Mann konnte ein solcher Mann sein, aber vor allem solche, die auf Parkbänken herumsaßen und am besten noch eine Tüte mit Süßigkeiten in der Hand hatten, um uns anzulocken wie die Urgroßmutter die Enten im Park mit ihren Brotkrumen. Die Person auf der Bank, vielleicht stand sie auch hinter einem Busch, mußte unbedingt schwarz oder wenigstens so dunkel wie möglich sein, zumindest was die Kleidung anging. Die Person hatte in meiner Vorstellung zwar ein mitteleuropäisch weißes Gesicht, aber erinnerte vor allem an jene Ur-Idee des Bösen, die uns damals eingeimpft wurde, nämlich an den Schwar z en Mann . Der schwarze Mann herrschte damals so kollektiv in allen Kinderköpfen, besonders den weiblichen, daß er noch Jahrzehnte später immer wieder erscheinen konnte. Zum Beispiel studierte an meinem Lateininstitut eine Frau, rothaarig, blasser Teint, groß, die noch mit fünfundzwanzig Jahren
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