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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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immer wieder vom schwarzen Mann träumte, also einem Neger, wie sie damals sagte. Immerfort lief sie vor einem Neger davon. Sie war dazu auch noch Schlafwandlerin, und manchmal wandelte sie dann ganz eilig dem Neger davon, dem kollektiven deutschen Kinderbewußtseinsneger, der ihr auch diese Nacht und in diesem Schlaf mal wieder auf den Fersen war, als erwachsener Person. Man mußte diese Frau nur mit weit aufgerissenen Augen anschauen, und sie bekam sofort einen Schreck, weil sie den Traumneger vor sich sah, das heißt seine aufgerissenen Negeraugen, ganz weiß, mit denen er ihr im Wahn hinterherschaute, getrieben von seinem grenzenlosen Verlangen nach deutschen rothaarigen, blaßhäutigen Mädchen. Der Bewußtseinsneger war das komplette Komplement zu ihr selbst, das genaue Gegenteil in jeder Hinsicht und daher ihr ständiger Alptraum. Es war die am Reißbrett von ihrer eigenen Person konstruierte Idealhorrorfigur und hatte genau die Form und das Aussehen eines Schwarzafrikaners. Er jagte sie immer wieder, und sie wachte dann manchmal in einem fremden Garten irgendwo in der Nachbarschaft auf und trug tatsächlich nur ein T-Shirt und sonst gar nichts. So weit hatte der Neger sie gebracht, und da stand sie dann in ihrer Blöße. Damit lebte sie ein Leben.
    Mein fremder Mann von damals hatte zwar das Gesicht eines Weißen, aber es war doch stets mit Kohle oder Ruß beschmiert und gewann wenigstens von daher seine Unheimlichkeit, denn der Mann trieb sich ja in dunklen Ecken und geheimen, schmutzigen Winkeln herum, vermutlich in Kellern und hinter den Mülltonnen, wo er wartete, um zuzuschlagen.
    Der schwarze Mann erschien auch stets in der Turnstunde, wenn wir, was regelmäßig geschah, »Wer hat Angst vorm schwarzen Mann« spielten. Es wurde uns natürlich nie erklärt, was genau der schwarze Mann eigentlich sei, denn es wurde vorausgesetzt, daß wir das alle wüßten. Der schwarze Mann in der Turnstunde war wie eine mathematische Funktion. Er war an sich wesenlos. Die Funktion beinhaltete ausschließlich, Kinder zu fangen. Einer wurde als schwarzer Mann bestimmt, dann mußte er so viele Kinder fangen, wie er konnte. Die Gefangennahme war ein Abpatschen. Man patschte das betreffende Kind ab, dann war es tot und blieb stehen (die anderen waren stets auf der Flucht vor dem schwarzen Mann). Natürlich waren die schwarzen Männer nie Mädchen. Die Mädchenwiederum kreischten am lautesten bei der Flucht vor dem schwarzen Mann, und geradezu überwältigt kreischten sie, wenn sie erwischt und gefangen wurden und abgepatscht und vom schwarzen Mann in den Tod überführt. So wurden sie jahrelang Woche um Woche in einer kleinen, abgewetzten Turnhalle mit altem Dielenboden und lediglich einer Sprossenleiter an der Wand, einer Turnhalle aus uralten Zeiten, noch wie in einem Heinrich-Mann-Roman, gejagt und vom schwarzen Mann in den Tod überführt, begleitet durch jenes atemlose, erregte Kreischen. Das war unsere Welt, und sie beinhaltete die andere, aber das verstanden wir noch nicht. Die erste war gegen die zweite stets durchlässig, aber alles fand ohne Begriff und zunächst auch nur unter Maskeraden wie dem oben genannten Spiel statt.
    So war auch der unbekannte Mann auf der Parkbank noch keiner, der etwas mit dem Stecken und Zeigen zu tun hatte, sondern er war in seinen Handlungen noch gänzlich unbekannt, wie eine fremde Macht, wie etwas aus einer völlig anderen, grausamen, unsittlichen, dreckigen, verworfenen Welt. Er war übrigens auch kein Krimineller. Kriminelle (Diebe) waren nichts dagegen. Kriminelle sah man in Krimis, dort öffneten sie virtuos Tresore oder überfielen auf großartige Weise Geldtransporter. Sie waren am Anfang noch gut gekleidet, die Kriminellen, sie trugen Tweed und Anzüge und waren überhauptnoch gut gesittet, auch wenn sie ganze Eisenbahnzüge ausraubten. Schlimmer waren schon die Mörder, die wir anfänglich auch nur allesamt aus dem Fernsehen kannten. Es gab zwar auch den Mord aus Hilflosigkeit, aber da steckte meist bloß eine irgendwie fehlerhafte Person dahinter. Die nächstschlimmere Kategorie war der Mord an Frauen, das heißt an jüngeren Frauen. Der Erbschleichermord zählte hier nicht dazu, der gehörte noch in die Kategorie »fehlerhafte« Person. Dem Erbschleicher und Heiratsschwindler, der stets reiche ältere Frauen mordete, eignete neben seiner bloßen Habgier noch nicht jenes ausschließlich dunkle Element dessen, der junge Frauen mordete. Das erklärt sich, glaube ich, ganz
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