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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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(nächster Gedankenschritt), mußte man selbst etwas tun. In der nächsten Welle der Telefonate wurde vereinbart, daß die Männer zum Viadukt gehen sollten, dort selbst nachschauen und es am besten in den nächsten Tagen komplett überwachen sollten. Die Idee einer Bürgerwehr entstand in ihren Köpfen, auch wenn sie es so nicht nannten. Es endete damit, daß, straßauf, straßab, nach Beendigung all der Telefonate sich vereinzelt Familienväter auf der Straße zeigten, erst unentschlossen, sich beredend, zuerst nur zwei oder drei, dann aber schon sechs oder sieben oder mehr, einer bereits mit einem Schürhaken, die anderen noch ohne Bewaffnung. Sie gingen zurück und holten verschiedene Gegenstände, einer auch eine Schaufel. So standen sie etwas verloren im Mühlweg an einem Tag gegen Ende der siebziger Jahre, all die Menschen, die sich eigentlich gar nicht weiter kannten, über ihnen ein tiefer, grauer, auf der ganzen Szene lastender Himmel, durch den einzelne Sonnenstrahlen hindurchbrechen und einzelne Details schlaglichtartig beleuchten konnten, das Geäst der riesigen Linde inmitten des Mühlwegs etwa oder vielleicht auch einen gußeisernen Zaun oder ein einzelnes Gesicht. Sie standen auf der Straße und versuchten sich zu ordnen, denn noch wenige Minuten zuvor hätte niemand von ihnen damit gerechnet, plötzlich Teileiner solchen bewaffneten Bewegung zu sein. Niemals hatten sie sich bei uns im Viertel bewaffnet, und nie waren sie gemeinsam als Gruppe losgezogen. Der eine oder andere hatte zwar einen Knüppel im Schlafzimmer hinter der Gardine stehen, um seine Ehefrau und sich im Notfall gegen den Eindringling im Schlafzimmer zu schützen, aber der Knüppel stand nur da, weil es die Ehefrau so wollte. Und es waren meist Männer, bei denen im Notfall dann doch eher die Frauen nach dem Knüppel hinter der Gardine gegriffen hätten.
    Auf der Straße mußten sie erst eine Meinungsführerschaft finden. Der größte von allen war zwar Herr Niebel, aber Herr Niebel war schlaksig, lief etwas gebeugt, trug eine Brille, war überdies schüchtern und kam als Führungsfigur nicht in Frage. Es ging immerhin um die Verteidigung ihrer Kinder! Wenn der körperlich Größte nicht automatisch die Autorität in einer gerade gebildeten Gruppe innehat, dann geht zunächst der voran, der am entschiedensten auftritt. Der entschiedene Auftritt kann entweder durch die Körperkraft begründet sein oder durch besonders viel und besonders überzeugendes Reden. Wie keine Gruppe auf der Welt existieren kann, die sich nicht sofort in Rangstufen untergliedert, so bildete sich auch in dieser Gruppe binnen kurzem völlig unbewußt durch Gesten, Körperhaltungen, Worte und Größenverhältnisse eine jedemevidente und gleichsam durch die Natur der Einzelwesen der Gruppe bedingte Rangordnung heraus, und Herr Eiler war der Führer der Gruppe.
    Warum Herr Eiler der Führer der Gruppe war (unser direkt gegenüber wohnender jugoslawischer Nachbar), wäre einem Außenstehenden nicht sofort ersichtlich geworden. Herr Eiler war eher klein, wenn auch nicht schmächtig gebaut, und er hatte gar keine Tochter, die er etwa hätte vor dem Perversen am Rosenthalviadukt schützen müssen. Er trug überdies nur schwache Bewaffnung bei sich (einen Hammer). Er galt nicht als übermäßig intelligent, und im Normalfall wäre er, hätte die Gruppe einen anderen Grund für ihr Zusammenfinden gehabt, auf einen minderen Rang gestuft worden. Wenn Herr Eiler etwa wegen seiner jährlichen Steuererklärung bei uns im Büro vor meinem Vater saß, ehrfürchtig vor allem, was Papier und Formalität war, dann war er kaum größer als ein Zwerg und stellte alle Fragen äußerst verschüchtert. Hier nun aber auf der Straße kam von Herrn Eiler vor allem die Tatsache zur Geltung, daß er Nachtwächter in der Zuckerfabrik war. Herr Niebel war Kaufmann. Herr Wagner war Allgemeinmediziner. Herr Powileit war Angestellter bei der Firma Braun. Herr Jakumeit arbeitete oben auf der Kaiserstraße beim Expert-Laden Breitenfelder und verkaufte Hifi-Anlagen. Herr Eiler aber lief nachts durch die Zuckerfabrik und sicherte das Gelände. Er saß in seiner Kabine mit seiner Thermoskanne und einem Wurstbrot, las Zeitung, machte Kreuzworträtsel und ging ein paarmal die Nacht los, um seine Runde zu drehen. Und da es hier sozusagen auch um das Drehen einer Runde ging, nämlich beim Viadukt, hatte Herr Eiler automatisch die größte Autorität und war der natürliche Anführer der Sache. Er war dann
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