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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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auch derjenige, der das Kommando zum Aufbruch gab. So setzte sich die Gruppe langsam in Bewegung und lief durch den Mühlweg nordwestwärts, fast wie niedergedrückt unter dem seltsamen Himmel und doch immer wieder jäh erleuchtet von einem grellen Schlaglicht. Vereinzelt blicken Hausfrauen aus den Fenstern ihrer kleinen Häuser. Manchmal stehen Kinder neben ihnen. Sie schauen dem Zug hinterher, als zöge er in die Ferne, zu einem Abenteuer oder in eine entscheidende Schlacht. Bei den Wagners, der Familie des Allgemeinmediziners, steht auch der siebzehnjährige Sohn Christian am Fenster, blickt seinem Vater hinterher und denkt sich, die sind ja völlig wahnsinnig. Was wollen die denn? Was wollen die vor allem mit diesen Stangen und Schaufeln und Schürhaken? Daneben seine Mutter, die nur leise vor sich hin murmelt, lieber Gott, möge ihnen nichts passieren.
    Man merkt, wie nun der Versuch einer gegenseitigen Ermunterung durch die Gruppe geht auf ihrem Weg zum Viadukt. Die einen winken froh und mutig den Betrachtern in ihren Häusern zu und rufen Dinge wie: Es wird schon nichts geschehen. Man gehe nur einmal nachschauen. Die anderen beginnen über ganz anderes zu reden, sie feixen oder tauschen Klatsch aus. Alle versuchen nun, eine muntere Gruppe zu sein. Ich sehe es wie im Bühnenlicht vor mir, eine Szene wie aus einem Schillerstück. Genau zu einer solchen munteren Gruppe wurden sie auch immer, wenn sie mit ihrer Stammwirtschaft im Reisebus die jährliche Fahrt zur Bierprobe bei der Licher Brauerei einige zehn Kilometer nördlich von uns machten. Man wollte dann gegenüber der Laune des Sitznachbarn nicht abfallen, jeder war dezidiert aufgeräumt, und auch diese Busreise hatte stets einen gewissen Abenteuercharakter. Man saß dann zum Beispiel neben fremden oder nur entfernt bekannten Frauen, denen gegenüber man seine besten und lustigsten Seiten hervorkehren wollte, und überhaupt waren sie dann alle durch ihre Vorfreude aufgeregt wie die Hühner, wenn es zur Licher Brauerei ging, und standen dort in der Brauerei auch tatsächlich wie die Pennäler beim Schulausflug herum und betrachteten die Anlagen, machten witzige Sprüche, wußten Fachkundiges anzumerken, jeder tastete sich in seine Gruppenrolle hinein, wie ein Jungvogel seine ersten Flügelschläge macht, zunächst noch vom Nestrand aus und quasi nur probeweise. Immer wenn es zur Licher ging, wurden siealle jung und waren wieder zehn oder zwölf Jahre, hatten sozusagen wieder kurze Hosen an und verhielten sich auch so.
    Die Gruppe hatte sich inzwischen vollständig definiert. Ablesbar war die Autoritätsreihenfolge an der Position innerhalb des Zugs. Vorneweg schritten Herr Eiler und Herr Neugebauer. Letzterer war verhältnismäßig groß, redete immer klar und äußerte sich interessiert und sachlich. Er hatte sich sicherlich auch deshalb an die Spitze der Gruppe gesetzt, weil, wie in jeder Gruppe, ein Großteil der Versammelten, besonders die weiter hinten, zu Unordnung neigten. Diese mußten von vorn zu Disziplin und Anschluß gerufen werden. Es war schon bis zum Viadukt schwer, die Gruppe überhaupt beieinanderzuhalten. Powileit und Jakumeit waren unterdessen so ins Schwätzen verfallen, daß sie immer wieder unbewußt haltmachten. Sie blieben vor dem Haus Mühlweg 12 stehen und sprachen über die jüngst renovierte Fassade des Hauses und was man da alles hätte besser machen können. Herr Niebel verzögerte seinen Schritt sogar absichtlich, denn er war von seinem anfänglichen mutigen Entschluß, mit zum Viadukt zu marschieren, nun gar nicht mehr überzeugt, zweifelte insgesamt das Vorhaben an und hatte Herrn Wagner mit einer Unzahl von Argumenten fast dazu gebracht, ebenfalls von alldem hier Abstand zu nehmen. Aber sie wurden doch vonder Gruppe hinterhergezogen wie trockenes Laub von einem vorbeifahrenden Auto.
    Am Viadukt die Gruppe aufteilen oder zusammenbleiben? Obgleich ich nichts davon sah (ich war ja im Mühlweg zurückgeblieben), steht alles vor mir: wie sie zunächst vor der Brache haltmachen, sich überlegen, welchen Weg der Exhibitionist genommen haben könnte, sich noch einmal durch Nachfrage vergewissern, wo die Mädchen denn genau den Mann gesehen hätten, ob hinten direkt an der Usa oder doch vielleicht weiter vorn Richtung Burgberg, oder dort im Gebüsch an dem Weg, den mein geburtsbehinderter Onkel J. früher immer genommen hatte, wenn er von der Firma zurück zu seinem Elternhaus nach Bad Nauheim gelaufen war (zu einer Zeit, als die
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