Die Straße in die Stadt
gefällt ihr nur zu sehen, wie die Leute leiden. Wie dumm wir doch gewesen sind, alle beide.«
Wir schwiegen eine Weile. Die Tränen liefen mir übers Gesicht.
»Vielleicht wird er mich heiraten, wenn er mit dem Studium fertig ist«, sagte ich zu ihm.
»Aber ja, vielleicht wird er dich heiraten. Ich passe sowieso nicht zu dir. Du würdest mich zu sehr leiden lassen. Wir zwei sind so verschieden.«
Er ging. Ich hörte seine Schritte auf der Treppe, hörte, wie er im Gemüsegarten mit meiner Mutter sprach. Meine Mutter kam in mein Zimmer, um mir zu sagen, daß sie in der Kirche die Familie des Doktors gesehen hatte, aber Giulio war nicht dabei. Der Doktor war zu ihr gekommen und hatte gesagt, er habe Giulio eine Zeitlang in die Stadt geschickt. Und dann hatte er sie gefragt, ob er kommen könne, um mit ihr zu reden.
»Geschafft«, sagte meine Mutter.
Der Doktor kam noch am selben Tag, und er und meine Mutter schlossen sich im Eßzimmer ein, um fast zwei Stunden zu diskutieren. Dann kam meine Mutter herauf und sagte, ich solle guten Mutes sein, denn sie seien sich alle einig und wir würden im Februar heiraten. Vorher ginge es nicht, weil Giulio in Ruhe studieren mußte, ohne Aufregungen, und bis zum Hochzeitstag würden wir uns nicht wiedersehen. Der Doktor wollte sogar, daß ich sofort das Dorf verlasse, um Gerüchte zu vermeiden. Meine Mutter hatte daran gedacht, mich zu einer Tante zu schicken, die in einem höhergelegenen Dorf unweit des unseren wohnte. Meine Mutter fürchtete, ich könne mich weigern zu gehen. Deshalb begann sie, mit großer Wärme von jener Tante zu sprechen, als hätte sie ganz vergessen, daß sie seit Jahren im Streit miteinander lagen wegen bestimmter Möbel. Sie erzählte mir von dem Garten, den die Tante vor dem Haus hatte, einen schönen großen Gemüsegarten, dort würde ich Spazierengehen können, solange es mir gefiel.
»Es dauert mich, wenn ich dich immer hier eingesperrt sehe wie im Gefängnis. Aber die Leute sind so böse.«
Dann kam Azalea. Sie und meine Mutter fingen an, über den Tag zu beraten, an dem ich abreisen sollte, und meine Mutter wollte, daß Azalea ihren Mann überredete, sich das Auto seiner Firma zu leihen, doch Azalea wollte nichts davon wissen.
-
I
n das Dorf meiner Tante fuhr ich auf einem Karren. Meine Mutter begleitete mich. Wir wählten einen Weg zwischen den Feldern, damit mich niemand sah. Ich trug einen Mantel von Azalea, weil meine Kleider mir nicht mehr paßten und mir in der Taille zu eng waren. Wir trafen am Abend ein. Die Tante war eine sehr dicke Frau mit vorstehenden schwarzen Augen, trug eine blaue Baumwollschürze und hatte eine Schere um den Hals hängen, weil sie als Schneiderin arbeitete. Sie begann mit meiner Mutter um den Preis zu streiten, den ich zahlen sollte für die Zeit, die ich bei ihr blieb. Meine Cousine Santa brachte mir etwas zu essen, zündete das Feuer im Kamin an, und nachdem sie sich zu mir gesetzt hatte, erzählte sie mir, daß auch sie hoffte, bald zu heiraten, »aber ich habe keine Eile«, sagte sie, laut und lange lachend. Ihr Verlobter war der Sohn des Dorfbürgermeisters, und sie waren seit acht Jahren verlobt. Er machte gerade seinen Militärdienst und schickte Postkarten.
Das Haus der Tante war groß, mit hohen, leeren, eiskalten Zimmern. Überall standen Säcke mit Mais und Kastanien herum, und von der Decke hingen Zwiebeln. Die Tante hatte neun Kinder gehabt, aber einige waren gestorben, einige weggegangen. Im Haus lebte nur noch Santa, die Jüngste, die vierundzwanzig Jahre alt war. Die Tante konnte sie nicht ausstehen und keifte den ganzen Tag hinter ihr her. Daß sie noch nicht geheiratet hatte, lag daran, daß die Tante sie unter dem einen Vorwand oder dem anderen daran hinderte, ihre Aussteuer fertigzumachen. Es gefiel ihr, die Tochter im Haus zu behalten und sie zu quälen, ohne ihr je Ruhe zu gönnen. Santa fürchtete sich vor ihrer Mutter, doch jedesmal, wenn sie davon sprach, zu heiraten und sie zu verlassen, weinte sie. Sie wunderte sich, daß ich nicht weinte, als meine Mutter wieder abfuhr. Sie weinte jedesmal, wenn ihre Mutter zu Geschäften in die Stadt fuhr, obwohl sie wußte, daß sie noch vor dem Abend zurückkehren würde. In der Stadt war Santa nur zwei- oder dreimal gewesen. Doch sie sagte, im Dorf fühle sie sich wohler. Dabei war ihr Dorf noch schlimmer als unseres. Es stank nach Misthaufen, auf den Treppen saßen schmutzige Kinder, und sonst gab es nichts. Die Häuser hatten
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