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Die Stimme

Titel: Die Stimme
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Mal machte sich sein Vater nicht einmal über ihn lustig. Er war zu beschäftigt, seine Pläne mit den anderen zu bereden.

    Zur verabredeten Zeit seines letzten Treffens mit Margaret wirkte das Haus in der Thames Street ganz so wie eh und je. Vom Fluß stieg Nebel auf und wehte in kleinen Schwaden über die Straße. Ein paar Häuser weiter sah man einen Mann Feuerholz anliefern, das er in Bündeln auf dem Rücken eines Esels transportierte, als der bis an die Zähne bewaffnete und gegen die Kälte vermummte Trupp die Straße entlangritt. Bei Master Wengrave nebenan kam gerade ein kleiner Lehrjunge mit einer Botschaft herausgeflitzt, sah den Trupp und machte in entgegengesetzter Richtung kehrt. Schwer vorstellbar, daß sich drinnen im einst so fröhlichen Haus der Kendalls irgend etwas tun sollte. Es stand ruhig da und hatte lediglich jenes eigenartige, etwas verlassene Aussehen eines Hauses, dessen Hausvater gestorben ist.
    Doch drinnen im Haus ging es hoch her, Arglistiges wurde geplant. Die beiden Brüder, immer noch in Volltrauer, lungerten unten im Gartenzimmer herum und besprachen heiter mit ihren gedungenen Banditen, wie sie Bruder Gregory dazu bringen würden, daß er das Versteck des echten Testaments preisgab. Margaret saß gefesselt und geknebelt auf der großen, eisenbeschlagenen Truhe, welche ihre Erlebnisse enthielt, damit sie auch ja Zeuge des Hinterhalts und der Bestrafung ihres angeblichen Liebhabers würde.
    »Also, ich finde, zuerst entmannen, und wenn er dann brüllt, prügeln, bis er redet«, sagte Lionel, rekelte sich in der Fensternische und säuberte sich die Fingernägel mit dem großen Messer, das er bei sich trug.
    »Wenn du so vorgehst, könnte ihn das vom Reden abbringen: ich finde, zuerst fesseln, dann verprügeln und den Rest, nachdem er geredet hat«, sagte Thomas, die Stimme der Vernunft.
    »Ihn an den Füßen vom Türrahmen aufhängen«, schlug einer der Banditen vor. »Dann haben wir alle mehr davon.«
    »Aha! Ich höre ein Klopfen an der Tür«, rief Lionel erfreut aus. Er lächelte von einem Ohr zum anderen, als man Bruder Gregory meldete. Dann versteckte er sich neben der Tür und machte sich bereit, Bruder Gregory bei seinem Eintreten mit einem Hieb zu empfangen, der ihn außer Gefecht setzte.
    Bruder Gregory stand einen Augenblick auf der Schwelle still. Er hatte sich die Kapuze über den Kopf gezogen, daß sie sein Gesicht beschattete – ein angespanntes und vom Schlafmangel bleiches Gesicht mit tiefen, dunklen Ringen unter den Augen. Er trat über die Schwelle, und als der Schlag von Lionels Knüppel auf seinen Rücken gekracht kam, fiel er auf ein Knie, fuhr dann aber zu seinem Angreifer herum und zog sein Messer. Thomas' Dolch wollte ihm in den Rücken fahren, als Lionels Hieb mit einem ›peng!‹ seitlich von Gregorys Kopf abprallte. Der Dolch traf, doch er drang nicht ein. Der lange Schnitt, den er auf Bruder Gregorys Rücken hinterließ, offenbarte auch warum: unter seinem Gewand kam schimmernd ein Kettenhemd zum Vorschein. Beim Kampf fiel ihm die Kapuze herunter, und da sah man auch den leichten Helm, den sie verdeckt hatte. Jetzt warfen sich die beiden Banditen auf ihn und drückten ihn zu Boden, und Lionel, der noch nie seine Ungeduld hatte zügeln können, wollte ihm schon den Todesstoß versetzen.
    Weiter kam er nicht, denn augenblicklich war ein gräßlich zischendes Geräusch zu vernehmen, als nämlich Gregorys Vater über die Schwelle trat und Lionel mit einem einzigen Hieb seines großen Bihänders köpfte. Der Kopf hüpfte zu Boden und rollte in eine Ecke, während das Blut aus den Arterien am Hals durchs ganze Zimmer und auf den Teppich spritzte. Ehe noch der Rumpf aufgehört hatte zu zucken, war das Zimmer voller bewaffneter Männer, die nur so hausten. Die Meuchelmörder wurden beim Fluchtversuch getötet.
    »Ei, Vater, willst du diesen da behalten?« Hugos muntere Stimme schallte über die Walstatt. Da stand er und hatte den Fuß auf Thomas' Kehle gesetzt. Der gab gurgelnde Geräusche von sich, die sich anhörten, als flehte er um Gnade. »Wir könnten ihn doch entmannen und rauswerfen, genauso wie sie es mit Gilbert vorhatten.«
    »Reine Zeitverschwendung«, knurrte der alte Mann. »Erdolche ihn und den Rest dazu.« Als das getan war, wischte der alte Mann seine Klinge gelassen am schwarzen Überrock von Lionels kopflosem Rumpf ab und steckte sie in die Scheide. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit Margaret zu. Bruder Gregory schnitt die Stricke an ihren
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