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Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Titel: Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
Autoren: Charlotte Link
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entging, bemerkte, daß ihre Augen brannten und ihre Lippen zitterten. Er begriff, was geschehen war.
    »Frederic hat es dir gesagt«, meinte er, »und jetzt bist du unglücklich, weil es für euch eine Trennung bedeutet. Aber ihr seid so jung, ihr verliert nichts. Und es ist so wichtig für Frederic.«
    »Ich weiß«, murmelte Mary.
    Es hätte keinen Sinn gehabt, noch irgend etwas zu versuchen. Hier lief sie gegen die starre Mauer der Belvilles, deren Vorfahren als normannische Eroberer England betreten und sich seither ihr Recht auf Freiheit und eigene Entscheidungen bewahrt hatten. Sie setzten durch, was sie wollten.
    Und was verstehen sie schon von mir, dachte sie plötzlich zornig, was wissen sie denn von meinem Leben! Was habe ich davon, daß Frederic sich quält, wenn ich leide! Er verläßt mich trotzdem.
    »Ich muß jetzt wirklich gehen«, sagte sie eilig, »ich komme morgen wieder, Frederic.« Sie wartete keine Erwiderung von ihm ab und sah ihn nicht mehr an. Wie betäubt lief sie durch den Sommerabend,
nahm weder das warme Gras unter ihren Füßen wahr, noch die Vögel in den Bäumen und den Duft der Wildrosenhecken am Wegesrand. Dieser Schmerz schien ihr schlimmer als alles, was sie bisher hatte ertragen müssen, wobei sie nicht genau wußte, was schwerer wog: Daß ihr Frederic und Marmalon sechs Jahre lang fehlen würden, oder daß Frederic sein Versprechen gebrochen hatte. Hundertmal, wenn sie zitternd zu ihm gekommen war, weil ihr Vater wieder voller Zorn auf sie losgegangen war, hatte er sie in die Arme genommen und in hilfloser Wut gesagt: »Aber du hast mich, Mary. Und ich werde dich keinen Tag lang verlassen.«
    Und nun... sechs Jahre! Sechs Jahre, und er behauptete noch, die gingen schnell vorüber! Mary lachte entrüstet auf. Sechs Jahre! Für ihn war das vielleicht keine Zeit, aber er sollte sie doch einmal in dem Dreck und in der Armut verbringen, in der sie leben mußte. Vielleicht würde er dann anders darüber denken.
    Sie erreichte Shadow’s Eyes und tauchte in dem Gewirr von engen Gassen unter. Von den Häusern starrten dunkle Fenster hinab, von denen viele einfach nur mit alten Säcken zugehängt waren. Überall lag stinkender Abfall, den die Menschen hinauskippten und liegen ließen, bis er irgendwann verweste. An den Ecken standen alte Frauen zusammen, gehüllt in einfache, braune Kleider, mit schwarzen Kopftüchern auf den Haaren, und ihre zahnlosen Münder wackelten, während sie kicherten. In den finsteren Hauseingängen kauerten greisenhafte Männer, die wie eingetrocknet wirkten und faulig stanken. Sie starrten den Vorübergehenden nach oder blickten nur trübe ins Leere, und ihre Köpfe, in denen sicher seit fünfzig Jahren kein klarer Gedanke mehr gedacht worden war, bewegten sich nicht einmal dann, wenn neben ihnen ein neuer Unratkübel ausgeleert wurde und der Dreck ihnen ins Gesicht spritzte.
    Das Armenhaus lag in der dunkelsten Gasse und war das verfallenste Haus des Dorfes. Es war aus Backsteinen gebaut, hatte ein tiefgezogenes Strohdach und Holzlatten vor den Fenstern, die jetzt im Sommer zum Teil herausgebrochen worden waren, um eine Spur von Licht und Wärme in das Innere der niedrigen Räume dringen zu lassen. In dem kleinen windschiefen Schuppen lebten immer an die dreißig Menschen, obwohl höchstens zehn Platz gehabt hätten,
aber es bestand die Verpflichtung, jeden Obdachlosen, der weder Arbeit noch Unterkunft fand, im Armenhaus aufzunehmen und durchzufüttern. Die Mittel dafür bekam Ambrose Askew von der Kirche und von den Fairchilds, aber der Betrag war äußerst sparsam bemessen, und Ambrose zweigte außerdem soviel er nur konnte davon für sich ab.
    Zehn Menschen, so hatte man ihm einmal gesagt, werde er hier aufnehmen müssen, für zehn Menschen, und für keinen einzigen mehr, war er daher bereit zu sorgen. Für zehn ließ er kochen, für zehn schaffte er Stroh zum Schlafen herbei, zehnmal im Jahr durfte der Doktor zu Kranken kommen. Mit Hilfe dieses Systems erreichte Ambrose eine regelmäßige Dezimierung der Zahl seiner Gäste, was aber nur dazu führte, die Menge etwa gleichbleibend zu halten, denn es kamen immer neue dazu. An warmen Tagen saßen sie auf der Bank oder auf den Pflastersteinen vor der Haustür im immer düsteren Dämmerlicht. Jeder aus dem Dorf, der irgendeinen Weg zu machen hatte, vermied es, durch diese Gasse zu gehen, denn der Anblick der halbnackten, halbtoten Elendsgestalten, die dort kauerten und vor sich hinstarrten, ließ jedem
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