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Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Titel: Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
Autoren: Charlotte Link
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stehen lassen. Die Mädchen werden immer nachlässiger. Aber sonst ist hier alles ganz sauber, darauf können Sie sich verlassen!«
    Mary lächelte höflich.
    Mich würde es wundern, wenn du überhaupt einmal hier das Fenster geöffnet hättest, seitdem ich zuletzt hier war, dachte sie.
    Der Gedanke, dieses Zimmer könnte Zeit und Erinnerung unverändert festgehalten haben, gefiel ihr. Ihre Zärtlichkeit und die von Nicolas lag noch zwischen diesen Wänden. Der Zauber einer längst vergangenen Nacht, einer fernen Zeit, streifte flüchtig wie ein Nebelschleier Marys Sinne, und sie begriff, daß das muffige Zimmer, das armselige Dorf am Rande der Welt einen Platz in ihrem Leben einnahmen, dessen Wichtigkeit sie niemals würde verleugnen können. Sie trat ans Fenster und sah hinaus. Es war August, und sie wußte, daß die Sonne strahlend hell schien, bis in die engen Gassen von Shadow’s Eyes drang sie jedoch nicht. Die niedrigen Häuser standen so dicht, daß ihre Dächer einander über die Straße hinweg berührten und den Blick auf den Himmel versperrten. In der feuchten Dämmerung dieses ewigen Schattens wuchs glitschiges Moos auf den Pflastersteinen, und an den Backsteinwänden der Häuser hingen grünliche Pilzflechten. Mary brauchte sie nicht zu sehen, sie
konnte sie mit den Fingern fühlen. Bilder und Eindrücke, die sie tief in sich vergraben geglaubt hatte, stiegen überraschend klar in ihrer Erinnerung auf und wurden gegenwärtig. Sie wußte, daß sich ihre Empfindungen deutlich auf ihrem Gesicht abzeichneten, und da die Wirtin sie noch immer beobachtete, sagte sie scharf: »Ich möchte jetzt allein sein.«
    »Natürlich, Madame, selbstverständlich. Wenn Sie etwas brauchen, rufen Sie mich.«
    »Das werde ich tun.« Sie atmete auf, als sich die Tür endlich schloß. Widerwärtiges, altes Weib. Sie hatte die Wirtin nie ausstehen können, zu allen Zeiten hatte sie sich aufdringlich in die Angelegenheiten anderer Menschen gemischt und alles weitergetratscht, was sie aufgeschnappt hatte. Bis heute wußte Mary nicht sicher, ob es diese Frau gewesen war, die Frederic Belville denunziert hatte.
    Der Gedanke daran ließ sie schauern, trotz der Wärme des Tages. Sie empfand die Schrecken jener eiskalten Nacht erneut, sah ein loderndes Feuer, dessen Schein bis nach Shadow’s Eyes reichte und die Einwohner aus ihren Betten scheuchte. Der Wind war voller Asche und der Himmel glutrot. Und Mary stand in ihrer Kammer und wollte nicht begreifen, was geschah, ebenso wie sie heute nicht wirklich begriff, warum es hatte geschehen müssen. Was hatte Frederic Belville getrieben, sich in die Machenschaften des absolutistischen Henry VIII. zu mischen? Was hatte ihn bewogen, sich seinen Schergen in den Weg zu stellen, die auszogen, die Politik der von Rom befreiten, unabhängigen englischen Kirche gewaltsam durchzusetzen? Damals, 1533, als die Scheidung des Königs von Katharina von Aragon England und Europa bewegte, den Vatikan in Wut versetzte und die junge Hofdame Anna Boleyn zur berühmtesten Mätresse ihrer Zeit und später zur Königin wurde. In jenen Jahren war es gefährlich, ein katholischer Priester zu sein und den Eid auf die neue Kirche zu verweigern oder offen mit den Spaniern zu sympathisieren, die in ohnmächtigem Zorn zusahen, wie ihre Katharina vor dem Hofstaat und dem ganzen Land gedemütigt wurde. All diese verrückten, willkürlichen, unvernünftigen Torheiten der Mächtigen hatten sich wie Wellen über das ganze Land gebreitet und nicht einmal vor Shadow’s Eyes haltgemacht, dem Dorf, in
dem bisher Zeit und Leben scheinbar unberührt von allen Geschehnissen der Welt vergangen waren. Aber dieses Gefühl trog, das hatte Mary irgendwann begriffen. Alle Dinge erhielten ihren Anstoß, manche von ganz fern, und Henrys Kirchenpolitik hatte Frederic in ihren Bann gezogen, obwohl er doch eigentlich nichts weiter wollte, als seine Felder bestellen und seine Bücher lesen. Und Mary Askew heiraten.
    Mary wandte sich ruckartig vom Fenster ab. Es war sinnlos zu grübeln, entschied sie. Sie hatte eine weite Reise hinter sich. Sie würde etwas schlafen und später einen Spaziergang durch das Dorf machen.
     
    Es dämmerte schon, als Mary Oakwood House verließ und hinaus auf die unratüberfüllten, engen Gassen trat. Zu diesem Zeitpunkt wußte bereits das halbe Dorf, daß Mary Askew zurückgekehrt war. Hinter allen Fenstern erschienen neugierige Gesichter, und auf der Straße blieben die Leute stehen und starrten hinter der
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