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Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Titel: Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
Autoren: Charlotte Link
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sagte er, »ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht so schnell laufen! Warum hörst du kein einziges Mal auf mich?«
    Mary wartete, bis sich ihr Husten beruhigt hatte und sie wieder sprechen konnte.
    »Wann verstehst du das endlich, Frederic? Ich habe immer so wenig Zeit! Wenn es dunkel wird, dann bist du in Marmalon, aber ich muß nach Shadow’s Eyes zurück, ins Armenhaus.«
    Frederic schlug die Augen nieder. Mary betrachtete entzückt den Bogen aus schwarzen Wimpern, der sich auf seine Wangen malte. Wie schön Frederic war, und wie sehr liebte sie ihn! Sie kannte ihn, seitdem sie beide kleine Kinder gewesen waren, und er war ihr das Vertrauteste der Welt. Seit einiger Zeit aber bekam ihre Freundschaft ein anderes Gesicht, eine neuartige Anziehungskraft war zwischen ihnen. Sie wurden sich ihrer Verschiedenartigkeit bewußt, der Tatsache, daß Frederic einmal ein Mann und Mary eine Frau sein würde, und diese Erkenntnis verwirrte und bezauberte sie. Es war eine Spannung zwischen ihnen, die ihr Zusammensein nicht leichter, aber aufregender machte. Manchmal sah Mary ein Glitzern in Frederics Augen, vor dem sie erschrak, das sie zugleich warm und sanft schauern ließ. Nur heute entdeckte sie es nicht. Er litt, und das zu spüren machte Mary traurig. Ihretwegen hatte er Kummer. Weil sie im Armenhaus von Shadow’s Eyes lebte, als Tochter von Ambrose Askew, dem ewig betrunkenen, vulgären Aufseher dort, und von Lettice Askew, die im Dorf nur als die ›größte Schlampe der ganzen Grafschaft‹ bezeichnet wurde. Es kränkte ihn, daß sie Abend für Abend dorthin zurückkehren
mußte, sich quälte und fürchtete, und er ihr nicht helfen konnte. Sie rutschte näher zu ihm heran und strich sanft mit den Fingern über sein Gesicht.
    »Es ist nicht so schlimm«, flüsterte sie, »weil ich dich doch habe!« Er sah hoch, und nun war sein Blick voller Zorn. Wie er ihren Vater haßte, diesen brutalen Dummkopf, und ihre Mutter, die abgetakelte Dirne! Warum gab sie Mary nicht wenigstens genug zu essen? Das Mädchen war viel zu blaß und zu dünn für seine zehn Jahre, und es lief sommers wie winters in einem grauen Kleid herum, durch das an kalten Tagen der Wind erbarmungslos hindurchpfiff. Immerzu hatte sie blaue Lippen und mußte husten, wobei es in ihrer Brust erschreckend laut rasselte. Dabei klagte sie nicht, war so gut, so lieb und tapfer. In den großen, blauen Augen stand immer die ungebrochene Zuversicht, daß eines Tages alles besser sein würde. Wenn sie morgens aus dem Dorf gelaufen kam, dann schien es immer, als schüttele sie mit jedem Schritt eine schwere Last von ihren Füßen, aber im Laufe des Tages wuchs sie wieder an, bis sie am Abend ein drückendes Gewicht erreicht hatte, unter dem Mary verzagt lächelnd wieder nach Hause ging. Der Gedanke daran tat Frederic so weh, daß er sie zärtlich an sich zog, ihren Kopf an seine Brust preßte und sein Gesicht in ihren Haaren vergrub. Sie saßen eine Weile bewegungslos und still, dann flüsterte er: »Ich werde dich dort rausholen, Mary. Ich schwöre es. Wenn wir alt genug sind, heiraten wir, und du lebst für immer in Marmalon.«
    »Ich weiß doch«, erwiderte Mary leise, »und ich kann es gar nicht erwarten, daß die Jahre endlich vorbeigehen.«
    In der Düsternis ihrer Kindheit bedeuteten Frederic Belville und Marmalon das einzige Licht, lockend und verheißungsvoll, schimmernd wie der helle Fleck Himmel, den sie am Ende der Gasse erkennen konnte, in der sie lebte. Dort, wo die Häuser auseinandertraten, glänzte es blau oder blaßgrau, was Mary, wenn sie morgens frierend in ihrer ärmlichen Kammer stand und sich mit eiskaltem Wasser wusch, die Kraft gab, sich anzuziehen und hinunterzugehen, ihrem verkaterten Vater, ihrer schimpfenden Mutter und den Geschwistern gegenüberzutreten. Sie hielt es aus, weil sie wußte, daß sie später die Gasse verlassen durfte, aus der feuchten, dunklen
Kälte hinaus auf die weiten, hügeligen Wiesen von Kent treten und nach Marmalon laufen würde.
    Marmalon war ein kleiner Bauernhof, umgeben von Feldern und Obstbäumen, der sich seit hundertfünfzig Jahren im Besitz der Familie Belville befand. Die Belvilles, dunkeläugig und schwarzhaarig, hatten seither immer in Freiheit gelebt, worauf sie sehr stolz waren. Ein Vorfahre Frederics kaufte das Stück Land nahe Canterbury und nannte es nach dem Jahrhunderte zuvor verlassenen Heimatdorf in der Normandie: Marmalon.
    Die Belvilles mußten hart kämpfen, um die Steuern zahlen zu
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