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Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Titel: Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
Autoren: Charlotte Link
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langsam die Hügel hinauf. Ein feuchter, kühler Geruch entstieg dem Gras.
    Mary öffnete die Friedhofspforte. Der Friedhof von Shadow’s Eyes war so alt wie der Ort selber, und die Steine an den Gräbern waren von dickem Moos überzogen. Überall anden gewaltige Trauerweiden, deren lange Arme leise im Wind spielten und sanft über die Gräber strichen. Sie bildeten ein beinahe undurchdringliches Dach, hoch und mächtig wie ein Dom, schöner als Canterbury, wie der Priester immer gesagt hatte. Mary, wie sie dort stand, begriff, weshalb sie hierhergekommen war. Sie hatte es nicht gewagt, ins Armenhaus zu gehen, aber sie mußte herausfinden, wer noch übrig war von ihrer Familie, und da es die Angst ihr verbot, bei den Lebenden zu suchen, forschte sie nun bei den Toten. Tote konnten nicht mehr verletzen, und vor ihren Seelen fürchtete sie sich nicht. Die friedvolle Stille ließ sie ruhiger werden, besänftigte ihre aufgewühlten Gedanken. Diese wunderbaren, alten Weidenbäume, solange sie lebte, würde sie Weidenbäume mit Frederic Belville in Zusammenhang bringen. Wenn sie an Menschen dachte, so verband
sie sie immer mit Bildern und Eindrücken, und Frederic gehörte zu Weiden, zu Sommer, zu blauem Himmel und warmem Gras.
    Vielleicht, so dachte sie, hatte Frederic die bedeutungsvollste Rolle in ihrem Leben gespielt. Zweifellos waren Männer für ihr Schicksal bestimmend gewesen. Nan Mortimer, die alte Hexe von Shadow’s Eyes, die für ihre geheimnisvollen Beschwörungen und übersinnlichen Fähigkeiten mit dem Leben hatte bezahlen müssen, hatte Mary das stets vorausgesagt. Sie mochte recht gehabt haben damit. Charles, der sie geliebt und den sie vertrieben hatte, Frederic, dem sie ein halbes Leben lang nachgelaufen war. Und Nicolas... ihr Magen zog sich zusammen wie schmerzend vor Hunger, Gott im Himmel, sie würden doch beide nicht so wahnsinnig sein, einander wegzuwerfen, nur weil die Umstände gegen sie waren.
    Aber mit Frederic hatte es angefangen, die Liebe und das Leben. Ihren Weg, den ihr bestimmten Weg beschritt sie erst, seitdem Frederic jene Sehnsucht in ihr geweckt hatte, die sie in die gnadenlose Rastlosigkeit stürzte, mit der sie ihr Ziel verfolgte. Mit der sie Shadow’s Eyes hinter sich ließ und zu der Frau wurde, die sie heute war.
    Eigentlich hatte es an einem Sommertag begonnen, unter einer Weide. Mary blickte hoch in das dunkle, leise rauschende Dach. Ja, sie wußte es, als sei es gestern gewesen, unter den schwingenden Zweigen einer Weide hatte es begonnen.

I
    Mary Askew hatte den Weidenbaum als erste erreicht und kroch heftig atmend unter seine Zweige. Sie war so schnell gelaufen, wie sie nur konnte, und bekam kaum noch Luft. Ihre Wangen hatten sich gerötet, ihre rotbraunen Haare flogen wild um den Kopf herum, und ihre Augen blitzten. Sie schob die Zweige auseinander und sah zu dem schwarzhaarigen Jungen hin, der ihr langsam folgte.
    »Beeil dich doch, Frederic«, rief sie, »weshalb schleichst du so?«
    »Weshalb hast du es immer so eilig? Es verfolgt uns doch niemand! «
    »Aber die Tage sind so kurz. Und abends muß ich wieder zu Hause sein.« Frederic nickte. Er kroch ebenfalls in die Höhle unter der Weide und setzte sich auf das weiche Moos, das hier wuchs. Er war ein auffallend hübscher Junge, groß, mager und braungebrannt, mit einem überwachen, intelligenten Ausdruck in den dunklen Augen. Er trug eine einfache, braune Hose und ein weißes Hemd, das an hundert Stellen geflickt war, hatte weder Schuhe noch Strümpfe an und war überall an den Armen zerkratzt von Dornenranken und Disteln, zwischen denen er in den Wäldern herumtobte. In diesem August des Jahres 1527 war er zwölf Jahre alt, aber jeder hätte ihn für wenigstens sechzehn gehalten. Er hatte das Gesicht eines beinahe Erwachsenen, ernsthaft, klug, verschlossen und überaus wissend. Seine Augen, über denen lange, dichte Wimpern lagen, blickten undurchdringlich und forschend; sie wollten es
keinem erlauben, sie zu enträtseln, schienen aber zugleich jedes Gegenüber bis auf den Grund seiner Seele zu durchschauen. Sein schöngeformter Mund zeigte einen deutlichen Zug von Melancholie, der an diesem Tag, im grünlichen Licht unter dem Baum, besonders deutlich hervortrat.
    Mary lehnte sich mit dem Rücken gegen den Baumstamm. Ihre Brust hob und senkte sich noch immer schnell, dann mußte sie husten, und mit leicht bläulich verfärbten Lippen rang sie um Atem. Frederic sah sie tadelnd an.
    »Nun mußt du wieder husten«,
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