Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Titel: Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
Autoren: Charlotte Link
Vom Netzwerk:
Kampfhähne aufeinander los. Lettice ergriff immer Edwards Partei, und Ambrose verlor dann vollends die Beherrschung, brüllte so wüst, daß es vermutlich überall in Shadow’s Eyes zu hören war.
    »Ach, sei still«, brummte Edward auf Lettices sanfte Mahnung hin, »gib mir lieber was zu essen.«
    Er ließ sich auf einen Stuhl am Tisch fallen und entdeckte Mary.
    »Sieh an, du bist auch hier!« Er zog sie an den Haaren, aber keineswegs spielerisch sanft, sondern so grob, daß Mary vor Schmerz die Tränen in die Augen schossen. Sie verbiß sich jeden Laut. Sie hatte früh gelernt, daß sie in ihrer Familie nur bestehen konnte, wenn sie sich so gut es nur ging zusammennahm und so wenig wie möglich auffiel.
    Edward nahm ihr ihren Becher mit Wasser weg und trank ihn
laut schlürfend leer. Lettice stellte einen großen Teller mit Fleisch und Gemüse vor ihn hin, über den er sich sogleich hermachte. Es war Mary ein Rätsel, woher Lettice jeden Abend ein gutes Essen für Edward nahm und wie es ihr gelang, diese geheimen Vorräte vor den übrigen Hausbewohnern zu verstecken. Sie dachte an die wäßrige Kartoffelsuppe, die sie am Mittag bekommen hatte, und ihr Magen zog sich zusammen vor Hunger. Doch natürlich sagte sie nichts. Lettice setzte sich neben ihren Sohn, legte ihre Hand auf seinen Arm und seufzte zufrieden, wenn er sie hin und wieder zwischen zwei Bissen mit seinen fettverschmierten Lippen küßte. Dann fiel ihr Blick auf Mary, und sie verzog ihr Gesicht.
    »Du lieber Himmel, Mary, dein Gesicht nimmt mir die gute Stimmung! Los, verschwinde. Geh ins Bett!«
    Mary rutschte von der Bank, huschte leise zur Küche hinaus und kletterte die steile, enge Treppe zu ihrer Kammer hinauf. Es drängte sie danach, endlich allein zu sein und ihren Tränen freien Lauf lassen zu können. Bei allen Schrecken hatte über ihrer Kindheit doch eine sanfte Schönheit gelegen, zart und verheißungsvoll wie die weißen Rosen von Marmalon. Alle Sicherheit und Ruhe hatte sie in Frederic gefunden, in seinem Lachen, wenn sie durch die Wälder liefen, in seiner Zärtlichkeit, wenn sie unter der Weide saßen und von ihrer Zukunft träumten. Dies alles war vorbei, von heute an, das wußte sie, stand sie allein da, und niemand breitete seine Arme aus, damit sie hineinflüchten könnte. Lettice hatte recht: Die Tage der Kindheit waren vorüber.
     
    Im folgenden Jahr sah Mary Frederic nur ein einziges Mal. An Weihnachten besuchte er seinen Vater in Marmalon, und Mary, die davon erfuhr, lief hinaus zu dem Hof, obwohl Lettice es verboten hatte. Der Tag war grau und stürmisch, und über dem fahlgrünen Gras lag dünner Rauhreif. Die kahlen Zweige der Weide wehten im Wind. Und dann stand Mary einem Frederic gegenüber, der ihr fremd geworden war. Er wirkte vollkommen erwachsen, war kräftiger als früher, männlicher, und hatte eine tiefe Stimme bekommen. Seine Haut hatte ihre gesunde, braune Farbe verloren; sie war jetzt blaß, und unter seinen Augen lagen Schatten.

    »Du arbeitest viel«, stellte Bruce Belville zufrieden fest.
    Frederic nickte.
    »Ich sitze von morgens bis abends in der Bibliothek«, erklärte er. Mary betrachtete ihn staunend. Er war so klug und überlegen geworden. Sie dachte schon, er liebe sie vielleicht nicht mehr, und saß den ganzen Nachmittag mit einem Kloß im Hals da, während draußen erste, kleine Schneeflocken vom Himmel wirbelten.
    Abends, als es schon ganz dunkel war, begleitete er sie über die kahlen Felder bis nach Shadow’s Eyes. Am Anfang der Gasse, in der sie wohnte, zog er sie an sich, mit der gleichen selbstverständlichen Geste, mit der er das immer getan hatte. Alle Fremdheit war verschwunden. Mary klammerte sich an ihn und flüsterte: »Nicht mehr ganz fünf Jahre, Frederic!«
    Er küßte sie sanft.
    »Ich freue mich so auf dich, Mary. Am selben Tag, an dem ich zurückkomme, heiraten wir.«
    Mary sah ihm nach, wie er in der Dunkelheit verschwand. Die kurze Begegnung hatte sie gestärkt. Sie ging nach Hause und hörte sich mit einiger Gelassenheit Lettices hämische Vorwürfe an.
    »So schlimm wie du rennt sonst keine den Kerlen hinterher«, sagte sie, »sieh dich nur vor! Dein hochgebildeter Frederic ist auch nur ein Mann, der dich eines Tages auf den Rücken schmeißt, um sich das einzige zu holen, was er von dir will! Der wird dich gar nicht lange fragen, das kannst du mir glauben!«
    Hier im Armenhaus, wo alle auf sehr engem Raum zusammenlebten, war Mary jenes geheimnisvolle Geschehen zwischen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher