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Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Titel: Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
Autoren: Charlotte Link
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Vorübergehenden einen Schauer über den Rücken laufen. Die meisten waren nicht älter als dreißig Jahre, aber jeder hätte geglaubt, daß sie doppelt so alt sein mußten. Alle Frauen hatten graue, fahle Haare, entzündete Augen und spuckten Blut, wenn sie husteten. Die Gesichter der Männer wurden von verfilzten Bärten überwuchert, zwischen denen rissige Lippen hervorsahen, aus denen unverständliche Laute hervordrangen, denn viele fühlten sich bereits zu schwach, um noch richtig zu sprechen. Sie konnten sich nicht mehr tagtäglich um das Essen balgen, das Lettice in einer Schüssel auf den Tisch stellte, bevor sie selber schnell das Zimmer verließ, um von der verhungerten, von Gier und Todesangst wild gewordenen Meute nicht zertrampelt zu werden. Viele mußten auch noch Nacht für Nacht zitternd vor Kälte auf dem bloßen Fußboden schlafen, weil die Stärkeren sich das Stroh sicherten und für die Schwächeren nichts übrigblieb. Durch ihr hartes Leben mit einer gewissen Zähigkeit ausgerüstet, überlebten sie dieses Dasein erstaunlich lange, aber irgendwann fielen sie einfach still und leise um oder standen morgens nicht mehr auf.

    Auch heute, als Mary mit schleppenden Schritten und ganz von ihrem Kummer erfüllt, herankam, hörte sie den Ruf, der ihr während ihrer Kindheit vertraut geworden war: »Oh, verflucht, Mam, wieder jemand krepiert!«
    Die Haustür wurde aufgestoßen, und Lettice eilte herbei. Sie überzeugte sich, daß die Alte tatsächlich tot war, sah sich um und erblickte ihre Tochter.
    »Mary, da bist du ja«, sagte sie, »komm her! Hilf mir tragen!«
    Mary nahm die Füße. Bei aller Abhärtung wurde ihr übel von dem Dreck und dem Gestank des alten Weibes. Die Bewohner des Armenhauses, unterernährt und selten in der Lage, sich waschen zu können, verfaulten meist schon, ehe sie tot waren. Sie stanken wie die Pest selber, aber Mary wußte, daß sie nicht jammern durfte. Lettice trug die Arme, und gemeinsam schafften sie den toten Körper von der Gasse weg in den steinernen Keller hinunter, wo sie ihn in den Vorratsraum legten, weil dieser am kühlsten war. Später würde Ambrose ihn vor dem Dorf verscharren, am selben Tag noch, wenn er nicht zu betrunken war, oder am nächsten. Lettice ließ die Tote zur Erde fallen. Mit einer erschöpften Bewegung wischte sie sich den Schweiß von der Stirn.
    »O Mary, dieses gottverdammte Gesindel«, sagte sie heiser, »ich bin nur noch damit beschäftigt, den Dreck wegzuputzen. Und wo hast du wieder gesteckt? Bei deinem Belville? Das muß auch anders werden. Warum soll ich allein arbeiten?«
    »Ich tu’ jeden Morgen meine Arbeit.«
    »Ja, und was ist mit dem Nachmittag? Du bist jetzt alt genug, um richtig zu arbeiten!«
    »Ich werde nicht mehr nach Marmalon gehen«, erwiderte Mary leise.
    Lettice betrachtete das blasse, verzweifelte Gesicht ihrer Tochter und meinte kühl: »Das tut dir nur gut. Du kommst nun in ein Alter, da solltest du dich sowieso nicht so viel mit Jungen abgeben. Die sind schneller erwachsen, als man denkt, und ehe du bis drei zählen kannst, hat er dir ein Kind gemacht. So, jetzt komm, wir haben eine Stärkung verdient.«
    Sie gingen hinauf in die Küche. Mary begriff, daß Frederic für
Lettice abgeschlossen war, und daß sie ihre Mutter nur ungeduldig machen würde, wenn sie erneut damit anfinge. So schwieg sie, setzte sich an den Küchentisch und nippte an dem Wasser, das Lettice ihr hinschob.
    Die Küche lag zum Hinterhof hin, der noch weniger Sonne abbekam als die Gasse vor dem Haus; daher mußten hier immer Kerzen brennen. Mary fand das gemütlich. Im weichen Flammenschein betrachtete sie ihre Mutter, die ihr gegenüber saß. Lettice Askew war einmal ein äußerst verführerisches junges Mädchen gewesen, was die meisten Männer der Umgebung noch heute mit einem anzüglichen Grinsen bestätigten. Sie besaß eine sehr schöne, weiße Haut, schmale graugrüne Augen und lange rote Haare, deren lockige Fülle sie allerdings jetzt meistens unter einem Kopftuch verbarg. Ihr Gesicht war scharf und hart, ohne einen Schimmer von Freundlichkeit oder Güte darin, und manchmal, wenn sie lächelte, erschien es fast grausam. Sie war die Tochter eines sehr armen Bauern gewesen, aber seitdem sie vierzehn Jahre alt geworden war, trug sie feinere Kleider als alle anderen Mädchen in Shadow’s Eyes, rot und weiß gestreifte Röcke aus Baumwolle, Schnürmieder aus schwarzem Samt und feine Schuhe aus Leder. Es gab sehr häßliche Gerüchte im
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