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Die sterblich Verliebten

Die sterblich Verliebten

Titel: Die sterblich Verliebten
Autoren: Javier Marías
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Ja, ich will nicht seine verfluchte Lilie auf der Schulter sein, die verrät, die brandmarkt und selbst das älteste Verbrechen nicht verschwinden lässt; soll die Materie der Vergangenheit stumm bleiben, sollen die Dinge sich auflösen oder verbergen, sollen sie schweigen, nichts berichten, nicht weiteres Unglück heraufbeschwören. Ich will nicht sein wie die verfluchten Bücher, unter denen ich mein Leben verbringe und deren Zeit stillsteht, immer schon vollendet, die lauert und darum fleht, aufgedeckt zu werden, um von neuem zu verstreichen, noch einmal ihre alte, wiederholte Geschichte zu erzählen. Ich will nicht sein wie diese geschriebenen Stimmen, die oftmals wie erstickte Seufzer klingen, wie ein Stöhnen aus der Welt der Leichen, in deren Mitte wir alle ruhen, wenn wir nicht aufpassen. Nicht umsonst werden manche Zivilverbrechen, vielleicht die meisten sogar, nicht registriert, sondern in der Regel ignoriert. Die Menschen neigen in ihrem Eifer allerdings immer wieder zum Gegenteil, sooft sie auch scheitern mögen: dazu, diese Lilie einzubrennen, die verewigt, anklagt, verdammt und vielleicht noch mehr Verbrechen befördert. Bestimmt wäre das bei jedem anderen und selbst bei ihm auch mein Bestreben gewesen, hätte ich mich nicht vor Zeiten verliebt, dumm und stillschweigend, ja liebte ich ihn nicht heute noch ein bisschen, wie ich vermute, trotz allem, all dem Vielen. Es wird vorbeigehen, geht schon vorbei, deshalb macht es mir nichts aus, es einzugestehen. Zu meiner Entlastung soll gelten, dass ich ihm gerade begegnet bin, als ich es nicht erwartet hatte, gutaussehend und glücklich. Und weiterhin dachte ich, mit dem Rücken zu ihm, während sich meine Schritte, meine Gestalt und mein Schatten für immer von ihm entfernten: Ja, es ist nichts dabei, es einzugestehen. Letztlich wird mich niemand richten, es gibt keine Zeugen meiner Gedanken. Es stimmt, wenn wir im Spinnennetz gefangen sind – zwischen dem ersten und dem zweiten Zufall –, geben wir uns grenzenlosen Phantasien hin und begnügen uns zugleich mit der kleinsten Krume, damit, ihn zu hören – wie diese Zeit zwischen den Zufällen, das ist ein und dasselbe –, zu riechen, zu erahnen, zu erfühlen, damit, dass er noch in Sichtweite, nicht ganz verschwunden ist, dass man am Horizont noch nicht die Staubwolke seiner Füße sieht, die fliehen.
    Januar 2011

Über Javier Marías
    Javier Marías, 1951 als Sohn eines vom Franco-Regime verfolgten Philosophen geboren, veröffentlichte seinen ersten Roman mit neunzehn Jahren. Seit seinem Bestseller ›Mein Herz so weiß‹ gilt er weltweit als interessantester Erzähler Spaniens. Sein umfangreiches Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Nelly-Sachs-Preis sowie dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Seine Bücher wurden in über vierzig Sprachen übersetzt.
     
    Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de

Impressum
    Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel ›Los enamoramientos‹ im Verlag Alfaguara, Madrid 2011
© Javier Marías, 2011 published by agreement with Casanovas & Lynch Agencia Literaria S. L., Barcelona and Michi Strausfeld, Barcelona-Berlin

Für die deutsche Ausgabe © 2012 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
Coverabbildung: Romain Baillom/ Millennium/ plainpicture
     
    Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
    Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
    ISBN 978-3-10-401997-0



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