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Die sterblich Verliebten

Die sterblich Verliebten

Titel: Die sterblich Verliebten
Autoren: Javier Marías
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konnten wir nicht vorhersehen, waren ja nicht mal sicher, ob er es am Ende gebrauchen würde. Aber der, der ihn erwartete, war abscheulich, ganz abscheulich, Javier hat mir den Prozess beschrieben. Nun kam er wenigstens schnell und plötzlich, nicht etappenweise. Etappen voller Schmerzen und Verfall, und Frau und Kinder, die zusehen müssen, wie er zu einem Monster wird. Das kann man nicht Mord nennen, komm mir nicht mit dem Mist, das ist was anderes. Ein Akt der Barmherzigkeit, wie Javier gesagt hat. Ein barmherziger Totschlag.«
    Er klang überzeugt, klang aufrichtig. Also dachte ich: Eins von dreien: Entweder ist das Melodrama wahr und nicht erfunden; oder Javier hat den Kerl hier ebenfalls mit der Krankheit hinters Licht geführt; oder der Typ spielt mir etwas vor, nach Anweisung dessen, der ihn bezahlt. Im letzten Fall ist er ein hervorragender Schauspieler, das muss man ihm lassen. Mir kam das Foto von Desvern in den Sinn, das in der Zeitung erschienen war und das ich undeutlich im Internet gesehen hatte: ohne Sakko, ohne Krawatte, vielleicht sogar ohne Hemd – wo waren wohl die Manschettenknöpfe hingekommen –, voller Schläuche und umringt von Sanitätern, die an ihm herumhantierten, die Wunden entblößt, mitten auf der Straße, in einer Blutlache, Blickfang der Passanten und Autofahrer, bewusstlos, kraftlos, sterbend. Er wäre jedenfalls entsetzt darüber gewesen, zu erfahren oder zu sehen, wie er vorgeführt wurde. Der
Gorrilla
hatte sich tatsächlich wild abreagiert, aber wer hätte das vorhersehen können, wir hatten es mit einem barmherzigen Totschlag zu tun, und vielleicht war es das auch, vielleicht entsprach alles der Wahrheit, und Ruibérriz und Díaz-Varela hatten in gutem Glauben gehandelt, soweit möglich, soweit ihre Verwirrung das zuließ. Oder ihre Bestürzung. Nachdem ich drei Versionen zugelassen und mich an dieses Bild erinnert hatte, überfiel mich Mutlosigkeit oder so etwas wie Überdruss. Wenn man nicht mehr weiß, was glauben, und nicht bereit ist, den Hobbydetektiv zu spielen, wird man es müde, stößt alles weit von sich, gibt auf, stellt das Nachdenken ein und lässt die Wahrheit Wahrheit sein oder, was auf das Gleiche hinausläuft, unentwirrbar. Die Wahrheit ist niemals klar, ist immer unentwirrbar. Sogar die ergründete. Aber im wirklichen Leben muss sie fast nie jemand herausbekommen, nie etwas ergründen, das geschieht nur in den kindischen Romanen. Ich unternahm dennoch einen letzten Versuch, allerdings schon lustlos, denn ich ahnte die Antwort.
    »Aha. Und was ist mit Luisa, mit Devernes Frau? Ist auch das ein Akt der Barmherzigkeit, dass Javier sie tröstet?«
    Wieder war Ruibérriz de Torres überrascht oder spielte es vorzüglich.
    »Die Frau? Was soll mit ihr sein? Welchen Trost meinst du? Natürlich hilft er ihr, tröstet sie, soweit er kann, auch die Kinder. Die Witwe seines Freundes und dessen Waisen.«
    »Javier ist seit langem in sie verliebt. Oder hat sich darauf versteift, es zu sein, einerlei. Für ihn war es ein Wink des Schicksals, den Mann aus dem Weg räumen zu können. Sie liebten sich sehr, die beiden Eheleute. Er hätte nicht die geringste Chance gehabt, solange er lebte. Jetzt dagegen schon, jetzt hat er eine. Mit Geduld, nach und nach. Wenn er in der Nähe bleibt.«
    Ruibérriz fand einen Augenblick wieder zu seinem Lächeln, einem matten. Es war ein mitleidiges Halblächeln, als täte es ihm leid, wie falsch ich lag, wie unschuldig ich war, wie wenig ich den verstand, der mein Liebhaber gewesen war.
    »Was redest du da«, antwortete er verächtlich. »Davon hat er nie ein Wort gesagt, und angemerkt habe ich ihm auch nichts. Mach dir nichts vor, tröste dich nicht mit dem Gedanken, dass er Schluss mit dir gemacht hat, weil er eine andere liebt. Und so gewaltig auch noch, ist doch lächerlich. Javier gehört nicht zu denen, die sich verlieben, der ist von anderer Sorte, ich kenne ihn seit Jahren. Weshalb, glaubst du, hat er nie geheiratet?« Er presste ein kurzes Auflachen hervor, das sarkastisch klingen sollte. »Mit Geduld, sagst du. Er weiß nicht mal, was das ist, bei den Frauen. Einer der Gründe, dass er Junggeselle bleibt.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »So ein Unsinn, du hast ja keine Ahnung.« Und doch verfiel er wieder ins Grübeln oder Gedächtniskramen. Wie einfach pflanzt man jemandem den Zweifel ein.
    Ja, aller Wahrscheinlichkeit nach hatte ihm Díaz-Varela nie etwas davon erzählt, vor allem, wenn er ihn hinters Licht
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