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Die Stasi Lebt

Titel: Die Stasi Lebt
Autoren: Jürgen Schreiber
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7.58 Uhr. Anschluss mit dem E 576 nach Darmstadt. 9.40 Uhr weiter nach Dieburg. Die einfache Tour kostete sechzig Mark plus zwei Mark Zuschlag. Wahrscheinlich schloss Murau am Gleis seine Gitti in die Arme, ahnungslos, in wessen Fänge er geriet.
    Seit dem Abtauchen war er in einer psychologisch schwierigen Situation: Als Faustpfand hatte der SSD seine Lebensgefährtin, die geschiedene Frau Anni Murau, kassiert. Die zwei Kinder lebten im Osten. Sein früherer Arbeitgeber jagte »den Verräter«. Im Hessischen hatte er noch nicht Fuß gefasst, hoffte aber auf ein neues Leben. Eine im Westen gemachte Aufnahme zeigt den 1907 in Mewe Geborenen mit Schlips und Kragen. Auffallend hohe Stirn, vager, in die Ferne gerichteter Blick, typisch für Passfotos.
    Der 24-jährige T. steuerte den von der Firma Severin gemieteten Opel-Kapitän zum Tatort. Als »Karl-Heinz Schmidt, Berlin Grunewald, Bismarckallee 17«, zahlte er 570 Mark an. Den gefälschten Ausweis lieferte die Stasi. Zur Reise via Autobahn Helmstedt gab’s für Benzin, Reparaturen und Spesen vorab vierhundert Mark auf die Hand.
    »Peter« und der »Schweriner« chauffierten den polizeilich gesuchten H. via Leipzig, Erfurt, Sonnenberg zur Zonengrenze gen Bayern. Zwischen Burggrub/Heik und Neundorf schlüpfte er durch den Eisernen Vorhang – und rein in T.s Karre.
    Treffpunkt Busstation Dieburg, 22. Juli 55, gegen 13 Uhr. Die Cullmann erklärte, ihr Vater wolle ein Darmstädter Lokal besuchen. Gemeinsam fuhren die drei dorthin, guckten eine geeignete Wirtschaft aus. Dabei kam ihr Auto von der Straße ab. H. verdrückte sich mit Gitti. Bruchpilot T. rettete mit Mühe seine Pistole FN, Kaliber 7,65 und fünf Schuss Munition. Tausch des lädierten Wagens gegen einen Mercedes 180 Diesel. Vor der Bar»Maxim« erklärte Gitti ihnen laut späterem Urteil, »dass mit einer freiwilligen Rückkehr ihres Vaters in die Sowjetzone nicht zu rechnen sei«. Drinnen brachte sie scheinbar zufällig Murau mit den am Nebentisch sitzenden Spezln zusammen. Zechen bis vier Uhr früh, weitersaufen in Heubach. Dem ausgeflogenen Vogel die Leimrute in Kneipen auszulegen verriet intime Kenntnis. Der Alkohol war sein Verderben, in Bierlaune erzählte er gern vom Stasi-Job.
    Ausflug am Sonntag, 24. Juli. H. und T. holten die Cullmann samt dem Angesäuselten um 17.30 Uhr ab. Erste Etappe bis Aschaffenburg. Unterwegs Kognak, Bier. In Schweinfurt Besuch des »Texas«, Mainberger Straße 48, das sich als »Varieté und Tanzlokal« empfahl. Murau ist sturzbesoffen. Im Polizeibericht steht: »Die Willenlosigkeit kann darüber hinaus … durch andere Narkotika herbeigeführt worden sein.« »Beim Verlassen der Bar«, so das Gericht, »gab die Cullmann ihrem Vater zu verstehen, dass man nunmehr nach Hause, also nach Heubach, fahren würde.« Es ging aber Richtung Schafott.
    Dreihundert Kilometer mit dem Todeskandidaten quer durch die Republik. Bei Kronach über Äcker auf DDR-Territorium. Ankunft gegen ein Uhr. Jenseits des Stacheldrahts bildeten »Peter«, der »Schweriner«, ein Fahrer, zwei Vopos das Empfangskomitee, quartierten Murau in die Stasi-Limousine um. T. hinterher zum Richter: »Halb zog man ihn, halb sank er hin.« Im Tross bis Berlin-Lichtenberg, Sitz der SSD-Zentrale. Anderntags zahlte »Peter« den beiden Männern je 5000 Mark Belohnung.
    T. legte 1240 Mark in eine goldene Schweizer Uhr an. Bei der Festnahme am 2. August hatte er noch 1590 Mark in der Tasche. H. brachte bis zur Ergreifung 1200 Mark durch. 3500 Mark habe er vergraben.
    Sylvester Muraus Häftlingskarte sagt nichts darüber, wo er bis zur Hinrichtung einsaß. Der Ex-Major war selbst lange genug Teil des Machtapparates, um zu wissen, dass ihm mit der Einlieferung zunächst ins Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen auf dieser Erde nicht mehr zu helfen war. Ihn vermisste niemand. In Westberlin hatte der Flüchtling 323 826 einen miserablen Start. Beim Aufnahmeverfahren machte er einen »geradezu finsteren Eindruck, dem, allein durch seine äußere Erscheinung hervorgerufen, einiges in puncto Vernehmung zuzutrauen ist«. Der Polizei lagen Hinweise vor, er habe in Schwerin »ständig« Häftlinge misshandelt, sei ein Schläger. Von »Kieferbrüchen« ist die Rede. Sein Kommen galt als »recht undurchsichtig«.
    Die Entführungsumstände ließen Murau keinen Zweifel: Das Regime wollte am Überläufer ein Exempel statuieren. Sofort kam sogar das Gerücht auf, er sei zur Abschreckung vor versammelter Truppe aufgeknüpft worden, habe
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