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Die Stasi Lebt

Titel: Die Stasi Lebt
Autoren: Jürgen Schreiber
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ein, die uns mal besser, mal weniger gut gelingt. Die Wirklichkeit schreibt die besten Romane.
    Jürgen Schreiber
Januar 2009

Das Urteil
    Chronik einer Familientragödie
     
     
    Cottbus, 22. Februar 1956: Der Stasi-Major Sylvester Murau wird zum Tode verurteilt und dann auf dem Schafott hingerichtet. Jetzt kommt die ganze Wahrheit ans Licht: Seine Tochter hat ihn verraten – und heiratete später den Mann, der ihren Vater ans Messer lieferte.
     
    Am 16. Mai 1956 ging die Sonne über Dresden um 4.14 Uhr auf. Zu spät für den 49 Jahre alten Sylvester Murau, den der Scharfrichter in der Untersuchungshaftanstalt George-Bähr-Straße 5 zwischen Nacht und Morgen aufs Schafott zwang. Die schräge Schneide der »Fallschwertmaschine« trennte ihm den Kopf, zwischen dem vierten und fünften Halswirbel vom Rumpf. Vollstreckungsdauer: drei Sekunden. Die Richtstätte schwamm im Blut, das sich in pulsierenden Kaskaden auf den Boden ergoss. Da waren die vor Entsetzen und Qual weit aufgerissenen Augen des gefesselten Opfers. Das Röcheln. Die klaffenden Schnitte. Der gebrochene Blick. Über allem der unerträgliche Geruch der Angst – Routine für Henker Walter Böttcher. Vor Murau tötete er über sechzig Kandidaten. An diesem linden Frühlingstag (bei Temperaturen bis 18,6 Grad) enthauptete der gelernte Schmied im Erdgeschoss des labyrinthischen Baus zwei weitere Gefangene. Als wäre das Grauen noch zu steigern, legten die Gehilfen den vom Leib geschlagenen Schädel beim Einsargen gern zwischen die Beine des Delinquenten.
    Eine spezielle »Ofenmannschaft« wartete in dem von Kiefern umstandenen Krematorium Tolkewitz auf Muraus Torso. Diebürokratische Ordnung der geheimen Kommandosache verlangte, »Abköpfen« und Verbrennen binnen Stunden abzuschließen. Im Einäscherungsbuch steht für Murau die laufende Nummer 144 080 und 7.45 Uhr. Mit roter Tinte ist angemerkt: »Po«, Polizeiliche Zuführung. Am 18. Mai 1956 beurkundet das Standesamt V den »Sterbefall 121/56« mit der Todesursache »Myocardinfarkt«, Herzinfarkt. Urne 553 verschwindet in Feld IV. Bis zur Wende wächst Gras darüber.
    Niemand weiß, was Murau in der kaum zu ermessenden Verlassenheit seiner letzten Stunden empfand. Ein lebender Leichnam schon in der Nacht aus Blei. Laut Hinrichtungsprotokoll um 0.30 Uhr »Feststellung der Personengleichheit« samt Mitteilung, sein Gnadengesuch sei abgelehnt. Auf drei Blatt, vorn und hinten mit Bleistift beschrieben, hatte er am 14. Mai Präsident Wilhelm Pieck gebeten, seine »Bitte zu erhören«. Das Aus verkündeten Anstaltsleiter Jonak und »Genosse Staatsanwalt Jahnke«, Kollege von Max Haberkorn. Der vertrat am 22. Februar 56 die Anklage gegen den vormaligen Schweriner Stasi-Major Murau vor dem 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Cottbus »wegen Verbrechens gegen Artikel 6 der Verfassung der DDR«. Der allgemeingehaltene Vorwurf beinhaltete »Spionage, Staatsverbrechen, Fluchthilfe«.
    Die Turmuhr ruckte auf 4.10 Uhr, Murau musste zur Enthauptung. Der dafür bestimmte Raum grenzte an die Todeszellen. Knappes Verlesen des Urteils im Beisein von zwei Stasi-Mitarbeitern und Dr. Ahnert: »Anschließend wurde er dem Scharfrichter übergeben.« Das Procedere glich bis ins Detail dem der NS-Zeit; die DDR schrieb die braunen Richtlinien einfach um. In den ersten Erlassen stand noch das Wort »Führer«. Die Antifaschisten arbeiteten ungeniert mit Nazi-Guillotinen, nur das Dresdner Richtschwert war eine Eigenkonstruktion. Und beiden Kommunisten läuteten die Anstaltsglocken nicht, wenn die Köpfe rollten.
    Der Verurteilte mag gefleht, gezittert, geweint haben, als er in der Abgeschiedenheit mit der auf ihn einstürmenden Panik kämpfte. Vor der Exekution habe er einen »verbissenen Eindruck« gemacht, sich »ablehnend und widerspenstig« bei der Frage nach letzten Wünschen gebärdet, berichteten Augenzeugen. Murau rauchte, döste. Vielleicht fügte er sich resigniert ins Unausweichliche, erwartete bloß das Ende des Schreckens. Gewiss eilten in den von Eiseskälte durchzogenen Minuten die Gedanken zur Tochter Brigitte. Er dürfte sie verflucht haben, gemartert von dem unerträglichen Gedanken, dass sie ihn schlussendlich ins Unglück stieß.
    Er rief das Kind immer »Gitti«. Ein Porträt überliefert die damals 21-Jährige als ausgesprochen damenhafte Erscheinung. Brünettes, gewelltes Haar, sanft geschwungene Augenbrauen, Ohrclips, schmale Nase, ganz vom Papa. Die verheiratete Cullmann trägt einen keck gestreiften
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