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Die Stasi Lebt

Titel: Die Stasi Lebt
Autoren: Jürgen Schreiber
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Videoclip, Titel: Gysi, das erste gesamtdeutsche Oberflächenphänomen.
    Seine Termine sind einigermaßen perfekt. Bis der PDS-Held zum Parteitag erscheint, filmen Teams jeden, den sie für einen echten Prolo halten, verweilen bei der Abgeordneten Angela Marquardt, die zur Feier des Tages ihre Punk-Frisur mit Alpine-Greene und Rose-Red auffrischte, um genau zu sein. Später lässt er sich feiern, umringt von geföhnten Damen, hält linkisch die im Sektkübel frischgehaltenen Blumen hoch. Am Roten Rathaus wartet Gysi danach in einem kleinen Zelt hinter der Bühne auf den Einsatz, das kennt man von Open-Air-Konzerten für Stars. Gelegentlich zeigt er sich, schreibt Autogramme. Leibwächter bahnen ihm den Weg, hören mit teilnahmsloser Miene den Ex-Kommunisten agieren. Man wüsste zu gern, was sie denken.
    Das Fernsehen als Hauptmedium für die Vermittlung des Faktors Gysi ist auf die Präsentation von Köpfen fixiert. Sieht man die Bildschirmgröße leibhaft ig, ist man überrascht, wie klein er ist. 1,60, 1,62 Meter notieren Zeitungen, er gibt »Eins vierundsechzigeinhalb am Morgen« an, »sogar der Blüm ist länger«. Ob ihm die fehlenden Zentimeter zu schaffen gemacht hätten? »Aber nein«, sprudelt er los, »die Frage hat man mir oft gestellt. Ich habe das immer kompensiert, nach vorne genutzt.« Die Wortwahl bestätigt unfreiwillig das Problem.
    Man kann sich gut in den Schüler Gregor hineindenken, den Zu-kurz-Gekommenen. Wer einen ganzen Kopf kleiner ist, muss hellwach sein. Der Bub war lange krank, litt unter der Isolierung. Gysi lernte Judo, trägt den grünen Gürtel. Vorlautes bis Nerviges, Situationskomik, Wortwitz, die große Klappe, gleichen bewusst oder unbewusst das Handicap aus, verleihen Identität. Gefallsucht gehört in diesen Komplex. Er war es, den die Klasse zum Direktor vorschickte. Früh münzte der Unscheinbare einen Nachteil in einen Vorteil um, gewann sprechend Statur. Selbst seine Bücher schreibt Gysi redend, er diktiert sie. »Ich rede besser, als ich schreibe.«
    Unvergesslich der erste Triumph. In der Schule wird ein Kind für Film-Synchronisation gesucht. »Die Wahl fiel auf mich.« Er ist in sowjetischen Komödien zu hören, darf selbst in Streifen mitwirken. In einer Szene soll er »Kopf hoch, Wronski« sagen, vergisst es, erzählt lachend davon. Sagenhaft e 300 Mark gab’s für die Eindeutschung des italienischen »Toto e Marcellino«, einer Waisenkindgeschichte. Am Deutschen Th eater spricht der Knirps zur Probe vor. Es geht um Wilhelm Tells Sohn, der sagt: »Vater schieß zu, ich fürcht’ mich nicht.« Gysi fällt durch. Aber wenn sein Name im Filmabspann erscheint, johlen die Freunde. Aufschlussreich seine Buch-Notiz: »Ich wuchs in meinem Sessel vor Stolz um einige Zentimeter.«
    Die Eltern hätten Gregor nach dieser Vorschule gern in einem künstlerischen Beruf gesehen. Das wollte der Sohn schon deshalb nicht. Der als Kulturminister zur ersten SED-Garde zählende Vater Klaus, die rundum gebildete Familie, das Nesthäk-chen musste sich einiges ausdenken, wenn es den erdrückenden Papa toppen wollte.
    Heute wiederholt sich das Kindheitsmuster beim Politikaufstieg. Es geht gegen Größere, die Konstellation beflügelt zu Hochform.In der Position scheinbarer Unterlegenheit lässt ihn einmal mehr die markante Stimme über sich hinauswachsen. Ideal-typisch vor Kameras, deren Magie er früh erkannte. Er luchst Beifall ab auf allen Kanälen, posiert wie aufgequollen vor Objektiven. Bei der Nominierung zum Spitzenkandidaten zaubern Handlampen einen Schein auf Gysis breiten Scheitel: Wo das Licht ist, ist ihr heiliger Gregor. Im Pulk sähe man ihn nicht. Der kultartige, ohne Widerrede abgespulte Parteitag vermittelt das Gefühl, einzig zu dem Zweck einberufen worden zu sein, ihm in einem improvisierten Studio das letzte Wort zu lassen. Nebenan wummert bei einem Motivationsseminar der Village-People-Song »YMCA«, während er durch Beredsamkeit mitreißt, das Aufb ruchsignal gibt. Er allein brachte die PDS in bundesweiten Umfragen auf sieben Prozent. Die Gegner spüren. Auch Zwerge haben klein angefangen.
    Nicht ohne hohes Pathos spricht er oft von seiner »Bindung« an Berlin. Spross einer alteingesessenen Familie, sei er an der Spree geboren, mit Kultur und Politik aufgewachsen, »die Lust an der Stadt« sei sein Motiv. Maliziös fügt er hinzu, Wowereit könne dann ja »unter mir Senator werden«. Dazu beult seine Zunge die Backe auf, was mokant wirkt und sich zwanghaft bei jedem
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