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Die Stadt der Wahrheit

Die Stadt der Wahrheit

Titel: Die Stadt der Wahrheit
Autoren: James Morrow
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Martina nur an und sagte: »Genauso habe ich Sie mir vorgestellt. Ich nehme an, Sie können nichts dafür, daß Sie aussehen wie ein Flittchen.«
    »Helen, wir alle sind sehr traurig«, sagte ich, »aber ein solches Gerede ist nicht nötig.«
    Meine Frau trank ihren Scotch aus und sackte zu Boden. »Ja, ich bin traurig«, stimmte sie zu.
    »Toby hat sich so sehr gefreut, Sie zu sehen«, sagte Martina zu ihr. »Ich wette, er wird sich jetzt allmählich erholen, da Sie bei ihm sind.«
    »Lügen Sie mich nicht an, Miss Coventry. Es tut mir leid, daß ich grob zu Ihnen war, aber – lügen Sie nicht.«
    Martina hatte gelogen, und doch schien es Toby gegen Abend ein klein wenig besser zu gehen. Sein Fieber sank auf 38 Grad. Er fing an, alles mögliche von uns zu verlangen – Helen mußte sein Automatikpony ins Zimmer bringen, Martina mußte ihm das Märchen vom Rumpelstilzchen erzählen. Ich vermutete, daß der Einfluß des Vertrauten – der wertvolle Anblick seiner Tapete, der Schranktür, der Postkartensammlung und der stümperhaften Holzarbeiten – offenbar einen Placebo-Effekt hatte.
    Placebos waren Lügen.
    Während Martina ihn mit einer witzigen Abwandlung der Rumpelstilzchen-Geschichte unterhielt, einer Version, bei der die Tochter des Müllers Nabelfusseln zu Erdnußbutter-Sandwiches verspinnen mußte, bereiteten Helen und ich in der Küche Kaffee.
    »Liebst du sie?« fragte sie.
    »Martina? Nein.« Ich liebte sie nicht. Nicht mehr.
    »Wie kann ich wissen, ob du mir die Wahrheit sagst?«
    »Du wirst mir vertrauen müssen.«
    Wir kamen überein, die Ehe weiterzuführen. Wir hatten das Gefühl, daß wir in der nahen Zukunft einander brauchen würden: die Maschinerie der Trauer war neu für uns, unsere Tränen waren noch etwas Fremdes und Unheimliches.
    Um fünf Uhr am nächsten Morgen starb Toby. In der letzten Stunde setzten Helen und ich ihn auf Schokolade und hielten ihn dort fest, damit er so tun konnte, als würde er reiten. Wir schaukelten ihn vor und zurück und sagten ihm, daß wir ihn liebten. Er sagte, es sei ein ganz tolles Automatikpony. Er starb im Sattel, wie ein Cowboy. Die Todesursache war letztlich Ersticken, nehme ich an; seine Lunge gehörte der Pneumocystis carinii und nicht Veritas’ schmutziger und geschädigter Luft. Sein vorletztes Wort, das er in der Höhle seiner Maske aushustete, war ›kalt‹. Sein letztes Wort war ›Rumpelstilzchen‹.
    Wir legten ihn wieder ins Bett und schoben ihm Barnabas Pavian unter den Arm.
    Ich geleitete Martina in den Flur und umarmte sie zum Abschied. Zweifellos würden sich unsere Wege wieder einmal kreuzen, sagte ich zu ihr. Vielleicht würde ich sie bei dem bevorstehenden Weihnachtsanschlag im Umsicht-Park treffen.
    »Deine Frau hat ihn geliebt«, sagte Martina, während sie auf den Abwärts-Knopf drückte.
    »Mehr, als sie selbst wußte.« Bing, der Lift kam.
    »Ich habe ihn für kurze Zeit glücklich gemacht, nicht wahr? Ein paar Wochen lang war er glücklich.«
    Hinter Martina glitt die Tür auf. »Du hast ihn glücklich gemacht«, sagte sie und trat aus meinem Leben.
    Ich schleppte mich in die Küche zurück und rief meine Schwester an.
    »Ich wünschte, mein Neffe wäre nicht gestorben«, tat sie kund. »Obwohl ich eines sagen muß – in diesem Moment bin ich froh, daß es mir so gutgeht – mit Connie, meiner Gesundheit, meinem Job. Ja, bei Anlässen wie diesem ist man wirklich froh darüber, wie gut es einem selbst geht.«
    »Wir treffen uns in einer Stunde. In der Glanzlosen Straße Nummer Sieben, Bezirk Descartes.«
    Helen und ich verpackten Tobys Leichnam in einem übergroßen Reißanfälligen Müllbeutel – Barnabas Pavian war jetzt ein Teil von ihm, durch die Totenstarre fest mit ihm verbunden –, dann ließen wir ihn in den Nikolaussack gleiten. Wir zerrten ihn zum Lift, fuhren mit ihm ins Erdgeschoß hinunter und hievten ihn in den Kofferraum meines Adäquat. Während unserer Fahrt durch die Stadt dröhnten uns politische Werbespots im Zusammenhang mit der Wahl aus dem Radio entgegen, einschließlich derer für Doreen Hutter. »Während einer meiner halbwüchsigen Söhne zugegebenermaßen ein Drogenabhängiger und Autodieb ist«, sagte sie, »verbringt der andere seine Nachmittage damit, Blinden vorzulesen und…«
    Ich stellte mir vor, wie Martina diese Zeilen niedergeschrieben hatte, als hingekritzelte Randbemerkungen neben ihre Schüttelreime.
    Als wir in die Hafengegend kamen, fuhr ich an den Anlegesteg, wo die Durchschnittliche
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