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Die Stadt der Wahrheit

Die Stadt der Wahrheit

Titel: Die Stadt der Wahrheit
Autoren: James Morrow
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weinte wie der betrogene Siebenjährige, der er war. Die Tränen trafen auf die Maske und rannen an der gewölbten Form aus glattem Plastik entlang. »Ich möchte auf Schokolade reiten!«
    »Du kannst nicht auf ihm reiten, Toby. Es tut mir leid.«
    »Ich habe es gewußt!« kreischte er. »Ich habe es doch gewußt!«
    »Wieso hast du es gewußt.«
    »Ich habe es einfach gewußt.«
    Eine gedehnte, unerträgliche Minute verstrich, unterbrochen von dem miteinander verflochtenen Stampfen des Inhalators und Tobys Schluchzen. Er küßte seinen Pavian. Dann fragte er: »Wann?«
    »Bald.« Ein harter, kratziger Knoten bildete sich in meiner Luftröhre. »Vielleicht in dieser Woche.«
    »Du hast mich angelogen. Ich hasse dich. Ich habe mir vom Nikolaus kein braunes Automatikpony gewünscht, ich wollte ein schwarzes. Ich hasse dich!«
    »Sei nicht so gemein zu mir, Toby.«
    »Schokolade ist ein blöder Name für ein Automatikpony.«
    »Bitte, Toby…«
    »Ich hasse dich.«
    »Warum bist du so gemein zu mir? Bitte, sei nicht so.«
    Eine weitere wortlose Minute folgte, gekennzeichnet durch das unbarmherzige dumpfe, abgehackte Dröhnen des Inhalators. »Ich kann dir nicht sagen, warum«, antwortete er schließlich.
    »Sag es mir.«
    Er zog sich die Maske vom Gesicht. »Nein.«
    Geistesabwesend löste ich den Aufhänger eines Gipsheiligen vom Weihnachtsbaum meines Sohnes. »Ich bin so dumm«, sagte ich.
    »Du bist nicht dumm, Dad.« Rotz tröpfelte aus Tobys Nase. »Was geschieht, wenn jemand gestorben ist?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Was glaubst du, was dann geschieht?«
    »Nun, ich nehme an, alles hört auf. Es hört… einfach auf.«
    Toby fuhr mit einem Finger über das geschmeidige Gummi seines Meperidin-Schlauches. »Dad, es gibt etwas, das ich dir bisher verschwiegen habe. Du kennst doch meinen Pavian hier, Barnabas? Er hat auch die Xaviersche Seuche.«
    »Oh? Das ist traurig.«
    »Genauer gesagt, er ist bereits daran gestorben. Er ist vollkommen tot. Barnabas hat einfach… aufgehört.«
    »Ich verstehe.«
    »Er muß bald begraben werden. Er ist tot. Er möchte im Meer bestattet werden.«
    Ich zerdrückte den Heiligen in meiner Hand. »Im Meer? Klar, Toby.«
    »Wie in dem Buch, das wir gelesen haben. Er möchte wie Corbeau der Pirat begraben werden.«
    »Natürlich.«
    Toby streichelte den Leichnam des Pavians. »Kann ich Mom noch mal sehen, bevor ich sterbe? Darf ich sie sehen?«
    »Wir werden morgen zu Mom gehen.«
    »Lügst du jetzt?«
    »Nein.«
    Ein Lächeln verzog seine aufgesprungenen Lippen. »Darf ich jetzt mit dem Vergnügungspark spielen?«
    »Klar.« Ich drückte die Augen so fest zu, daß ich beinahe erwartete, ich würde sie mir ins Gehirn schieben. »Möchtest du die Steuerung bedienen?«
    »Ich fühle mich nicht stark genug. Mir ist so kalt. Ich liebe dich, Dad. Ich hasse dich nicht. Wenn ich gemein zu dir bin, dann hat das einen bestimmten Grund.«
    »Welchen Grund?«
    »Ich möchte nicht, daß ich dir allzusehr fehle.«
    Jetzt würde es mir passieren, das wußte ich: die Geschichte mit den Tränen. Ich griff unter das Bett und bediente den Hebemechanismus, bis ich Tobys leeren Blick in die Richtung seines Vergnügungsparks gebracht hatte. Was für eine auf sich selbst beschränkte Wirklichkeit, dieses Spielzeug – wie sehr ähnelte es Veritas, dachte ich, wie sehr ähnelte es Satirev. Jeder, der in einer derart eingegrenzten Welt lebte, der sich wirklich als einer ihrer Bewohner empfand, mußte auf lange Sicht verrückt werden.
    »Ich werde dir nicht allzusehr fehlen, nicht wahr?«
    »Du wirst mir fehlen, Toby. Du wirst mir in jeder Minute meines Lebens fehlen.«
    »Dad – du weinst ja!«
    »Du kannst mit dem Vergnügungspark spielen, solange du willst«, sagte ich und hantierte an den Knöpfen des Bedienungspaneels herum. »Ich liebe dich sehr, Toby.« Das Karussell schwang herum, das Riesenrad drehte sich, die Wagen der Achterbahn sausten auf und ab und schlugen Loopings. »Ich liebe dich sehr.«
    »Schneller, Dad. Laß sie schneller fahren.«
    Und ich tat es.
     
    Den Morgen nach Weihnachten verbrachten wir damit, eine Bahre mit allen für den Versuch, die Xaviersche Seuche erträglicher zu machen, notwendigen Gerätschaften auszustatten und sie in ein bewegliches Zentrum für die Lindernde Behandlung von Hoffnungslosen Krankheitsfällen umzuwandeln: Schläuche, Aluminiumständer, Sauerstoffflasche, Inhalator. Dr. Krakower packte eine Ampulle mit Morphium in unseren Karton mit Infusionsflaschen,
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