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Die Stadt der Wahrheit

Die Stadt der Wahrheit

Titel: Die Stadt der Wahrheit
Autoren: James Morrow
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Josephine vertäut lag. Boris saß auf dem Vorderdeck, wo er Klebeband um den gebrochenen Stiel eines Muschelrechens wickelte und mit Gloria und Connie plauderte. Ich betrachtete eindringlich die Augen meiner Schwester – trocken, unanständig trocken – und ließ den Blick weiterwandern zu denen meiner Nichte – trocken.
    Dem angenommen Gott sei Dank erfaßte Boris die Situation sofort. Toby wollte also im Meer bestattet werden? Okay, kein Problem – der Segeltuchsack würde gute Dienste leisten: ein paar Ziegelsteine, ein paar andere dicke Brocken…
    Er fuhr mit der Durchschnittlichen Josephine bei höchster Geschwindigkeit in den Kanal hinaus und ankerte in der Nähe des nördlichen Ufers, unterhalb eines nackten Felsens, auf dem Seeschwalben nisteten. Während die Vögel ihre Kreise über dem Wasser drehten, beäugten sie uns finster, um ihren luftigen Hort zu verteidigen wie wütende übergroße Bienen.
    Boris zog den Nikolaussack ins Schiffsheck und legte ihn auf das schmutzige, mit Algen überzogene Deck. »Wie ich höre, warst du ein ziemlich toller Kerl, kleiner Toby«, sagte er, während er den Sack mit einem Stück wasserfestem Hanf fest verschnürte. »Tut mir leid, daß ich dich nie kennengelernt habe.«
    »Obwohl du mich nicht hören kannst, bewegt mich in diesem Moment der Abschied von dir«, sagte Gloria. »Ich fühle mich ein wenig schuldig, weil ich dir nicht mehr Beachtung geschenkt habe.«
    »Die Sache ist die, daß ich mich mit dir gelangweilt habe, Toby«, sagte Connie. »Nicht, daß ich dich nicht hätte leiden können. Ich bedaure sogar irgendwie, daß wir kaum jemals miteinander gespielt haben.«
    Boris hob den Nikolaussack hoch und balancierte ihn mit seiner haarigen, wettergegerbten Hand auf dem Querbalken.
    »Du fehlst mir, Sohn«, sagte ich. »Du fehlst mir sehr.«
    »Du warst ziemlich langweilig«, sagte Connie.
    Boris zog die Hand zurück, und der Sack plumpste ins Wasser wie das Gürteltier, das Toby gefangen und am Jordan freigelassen hatte. Als er auf der Wasseroberfläche des Kanals aufschlug, sagte Helen schlicht: »Ich liebe dich, Toby.« Sie sagte es immer wieder, noch lange nachdem der Sack außer Sicht gesunken war.
    »In einer Stunde wird es dunkel sein«, erklärte Boris. »Wie wär’s, wenn wir uns auf den Weg machen würden?«
    »Hm?«
    »Du weißt schon – uns auf den Weg machen. Aus dieser verrückten Stadt abhauen.«
    »Abhauen?«
    »Denk darüber nach.«
    Das war nicht nötig.
     
    Ich bin jetzt ein Lügner. Ich könnte diesen letzten Abschnitt leicht mit einem unaufrichtigen Bericht über allerlei Dinge füllen, die uns angeblich widerfahren sind, nachdem wir Gloria und Connie am Ufer abgesetzt und wieder auf den Fluß zurückgekehrt waren:
     die atemlose Verfolgungsjagd, solange die Brutalotruppe hinter uns her war, unser knappes Entkommen in der Bucht, unsere waghalsige Flucht ins offene Meer. Doch die schlichte Tatsache ist, daß all solche dramatischen Ereignisse nicht stattgefunden haben. Durch ein strahlendes, existenzielles Wunder schipperten wir in jener Nacht unbehelligt aus veritasianischem Gebiet hinaus, ohne einem einzigen Polizeiboot oder einer Küstenwache zu begegnen oder auf eine Unterwassermine aufzulaufen.
    Wir durchkreuzen jetzt bereits seit fast drei Jahren die weitläufige und stürmische Karibik, besuchen dieselben Landstriche, die Columbus einst berührte – Trinidad, Tobago, Barbados –, um unseren Vorrat an frischem Obst und Trinkwasser wieder aufzufüllen, ohne bestimmten Kurs, ohne vorgegebene Zukunft, mit ungewissem Ziel. Wir verspüren kein Verlangen, irgendwo Wurzeln zu schlagen. Zur Zeit ist uns die Durchschnittliche Josephine Heimat genug.
    Mein Syndrom, so habe ich gehört, ist normal. Die Alpträume, die plötzlichen Tobsuchtsanfälle, die grundlosen Schreie, der Ausbruch, bei dem ich das Radio, unsere Funkverbindung zur Küste, zerschmettert habe – diese Verhaltensweise, so wurde mir gesagt, war zu erwarten.
    Verstehen Sie, ich will ihn wiederhaben.
    Es wird allmählich dunkel. Ich schreibe bei Kerzenlicht, in unserer düsteren Kombüse, die Mine meines Kugelschreibers kratzt über die Seite wie eine Küchenschabe, die ein fettiges Stück Alufolie ausräubert. Meine Frau und der Muschelbuddler kommen herein. Boris fragt mich, ob ich Kaffee möchte. Ich sage nein.
    »Hallo, Daddy.« Die kleine Andrea sitzt auf Helens Schultern wie ein Joch.
    »Hallo, Liebling«, sage ich. »Hast du Lust, mir ein Lied vorzusingen?« frage
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