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Die Stadt der Wahrheit

Die Stadt der Wahrheit

Titel: Die Stadt der Wahrheit
Autoren: James Morrow
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Meperidin-Tropf drehte. Er bekam das Zeug jetzt beinahe ständig, als ob er zwei Herzen hätte, eins zum Blutpumpen, das andere zum Pumpen der Medikamente. »Höchstwahrscheinlich.«
    Verstohlen klappte ich meine Brieftasche auf und zog meine MasterCred-Karte heraus. »Für Anthony Raines«, flüsterte ich Sebastian zu und schob ihm das Plastikrechteck hin. »Alles geht darauf.«
    Sebastian hielt die Handfläche hoch wie ein Polizist der Brutalotruppe, der den Verkehr anhält. »Behalten Sie Ihre Karte«, sagte er. »H.E.R.Z. kommt für alles auf, auch für mein Honorar.« Er richtete sich hoch auf, und das Kissen schwankte unter seinem breiten schwarzen Gürtel, als er sich rückwärts aus dem Zimmer entfernte. »Bis dann, Toby – frohe Weihnachten!«
    »Frohe Weihnachten«, sagte Toby hustend. Er zog die Maske ab und drehte sich zu mir um. »Hast du das gehört, Dad? Der Nikolaus kommt noch mal. Ich bin so aufgeregt.« Seine pflaumenfarbene Haut leuchtete. »Er wird mir ein Automatikpony bringen und noch ein paar Überraschungen. Ich kann es gar nicht erwarten, daß er wiederkommt – ich kann es gar nicht erwarten.«
     
    Martina sagte: »Wir müssen miteinander reden.«
    »Worüber?«
    »Ich denke, das weißt du.«
    Sie führte mich in den Besucheraufenthaltsraum im ersten Stock, eine Art ummauerter Dschungel. Überall prangten exotische rosafarbene Blüten zwischen üppig grünen Wedeln in der Größe von Elefantenohren. Alles unecht: jedes Blütenblatt war aus Porzellan, jedes Blatt aus Glas.
    »Jack, was wir tun, ist einfach nicht richtig.«
    »Deiner Meinung nach, Martina.« Ich schaltete den Fernsehapparat ein – es lief eine Varieté-Show mit dem Namen Die Titten- und Arsch-Stunde. »Das ist deine ganz persönliche Ansicht.«
    »Es ist wirklich häßlich. Falsch und häßlich.«
    »Was? Weihnachten?«
    »Daß wir Toby anlügen. Er möchte die Wahrheit wissen.«
    »Welche Wahrheit?«
    »Er wird bald sterben.«
    »Er wird nicht bald sterben.« Mir war klar, daß Martina es gut meinte, doch ich fühlte mich dennoch betrogen. »Auf welcher Seite stehst du überhaupt?«
    »Auf Tobys.«
    Ich zuckte zusammen. »Ach ja. Nun, falls er tatsächlich sehr krank ist, dann sollte er es gewiß nicht erfahren.«
    »Er liegt im Sterben, Jack. Er liegt im Sterben, und er braucht jemanden, der ehrlich zu ihm ist.«
    Auf dem Fernsehbildschirm zog eine breit grinsende Frau ihr Bikinioberteil aus, blickte geradeaus in die Kamera und sagte: »Da habt ihr es, Jungs! Deshalb habt ihr doch alle eingeschaltet!«
    Ich knipste den Apparat aus. Das Bild implodierte zu einem Lichtpunkt und erlosch. »Was soll dieser Negativismus, Martina – du hörst dich an wie meine Frau.«
    »Sei kein Feigling.«
    »Feigling? Feigling? Kein Feigling würde all das auf sich nehmen, was ich durchgemacht habe.« Ich schlug mit der Handkante gegen die nächste Pflanze und brach einen Glaswedel ab. »Übrigens weiß er nicht einmal, was der Tod ist. Er würde es gar nicht verstehen.«
    »Doch, das würde er.«
    »Laß uns eine Sache klarlegen. Toby wird das großartigste Weihnachtsfest erleben, das sich ein Junge überhaupt vorstellen kann. Verstehst du? Ein so großartiges, wie es kein zweites gibt.«
    »Na schön, Jack. Und dann…«
    »Und dann…«
    Die Wahrheit überfiel mich wie etwas Kaltes, Schnelles und Schweres – eine Flutwelle oder ein herabfallender Sack voller Nägel. Meine Knie sackten durch. Ich fiel zu Boden und schlug mit den Fäusten auf den abgebrochenen Palmwedel ein, zerschmetterte ihn. »Das darf nicht geschehen!« stöhnte ich. Ich zitterte wie ein Kind beim Gehirnbrand. »Das darf nicht sein, das darf nicht sein…«
    »Es ist so.«
    »Ich liebe ihn so sehr.«
    »Ich weiß.«
    »Hilf mir«, schrie ich, während sich mir Glassplitter in die Handflächen bohrten.
    »Hilf Toby«, sagte Martina, wobei sie sich bückte und mich mit ihrem tiefempfundenen, echten, nutzlosen Mitgefühl umhüllte.

 
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7
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    Am letzten Tag des August, auf dem Höhepunkt einer sengenden und lähmenden Hitzewelle, spielte sich im Zentrum für Schöpferisches Wohlbefinden Weihnachten ab. Schlittenglöckchen läuteten silberhell durch die Korridore; die jubilierenden Klänge von ›O du fröhliche, o du selige…‹ strömten aus dem tragbaren CD-Spieler; der aufdringlich grüne Geruch von Buchsbaumzweigen erfüllte die Luft. Niemals werde ich das Lächeln vergessen, das in Tobys ausgetrocknetem, zyanblauem Gesicht aufstrahlte, als sein Freund,
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