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Die Stadt der Wahrheit

Die Stadt der Wahrheit

Titel: Die Stadt der Wahrheit
Autoren: James Morrow
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schlief, röchelnd und pfeifend. Ich drehte mich zu Martina um. Unsere Blicke trafen sich, vereinigten sich. »Sag ihnen, sie sollen hinausgehen«, sagte ich mit bebender Stimme. Martina runzelte die Stirn. »Diese H.E.R.Z.-Geier«, wurde ich deutlicher. »Ich möchte, daß sie verschwinden. Sofort.«
    »Ich glaube, du verstehst da was falsch, Jack. Sie sind gekommen, um während des ganzen Todeskampfes dabeizusein. Sie sind…«
    »Ich weiß, warum sie gekommen sind.« Sie waren gekommen, um mein Kind ersticken zu sehen; sie waren gekommen, um sich an dem rührseligen Spektakel zu ergötzen. »Sag ihnen, sie sollen verschwinden«, wiederholte ich. »Sag es ihnen!«
    Martina ging zwischen den Helfern des Nikolaus herum und erklärte ihnen, daß ich etwas Zeit mit Toby ganz allein brauchte. Sie reagierten wie beleidigte Zehnjährige, die sich ungerecht behandelt fühlten: mit schmollenden Lippen, zusammengebissenen Zähnen, geballten Fäusten. Sie stampften mit den Füßen auf den glänzenden gelben Boden.
    Langsam strömten die H.E.R.Z.-Leute hinaus, boten mir ihr scheinheiliges Beileid an und besprenkelten ihr Mitgefühl mit satirevianischen Bemerkungen. »Es ist nur eine Reise, Mr. Sperry, nicht das Ende.«
    »Er geht in die nächste Phase eines großen Kreislaufs über.«
    »Die Reinkarnation, das wissen wir inzwischen, beginnt genau im Augenblick des Dahinscheidens.«
    Als Anthony Raines die Tür erreichte, fuhr ich ihm über die Eibisch-Halskrause und sagte: »Danke, daß Sie all das Spielzeug aufgetrieben haben.«
    »Wir finden Sie sehr selbstsüchtig«, entgegnete er schroff und verdrehte die Feder seiner Kappe. »Wir haben so viel für Sie getan, und jetzt wollen Sie…«
    »Sie auf betrügerische Weise um sein Sterben bringen? Jawohl, das stimmt genau. Ich werde sie betrügen.«
    »Ich dachte, Sie wollten, daß wir das Immunsystem Ihres Sohnes mit dem kosmischen Pulsschlag in Einklang bringen. Ich dachte, wir sollten…«
    »Ich glaube an all diesen Quatsch nicht mehr«, gestand ich. »Wahrscheinlich habe ich nie daran geglaubt. Ich habe mir selbst etwas vorgemacht.«
    »Komm, lassen wir ihn allein.« Sebastian drückte seinen Kissen-Bauch gegen Anthony. »Ich glaube, in diesem Moment braucht er uns nicht.«
    »Manche Leute sind sehr launisch«, sagte Anthony, während er dem Nikolaus aus dem Zimmer folgte. »Manche Leute…«
    Endlich war ich allein und stand mitten in dem grotesk-fröhlichen Durcheinander; in meinen Ohren pochte das gespenstische Tamtam von Tobys Inhalator. Weihnachtsbaum, Automatikpony, Miniatur-Vergnügungspark, Plüschgiraffe, Clownroboter, Schnarrtrommel, Schlittschuhe, Backgammon-Spiel, Steve-Carlton-Baseball-Handschuhe – albern, wertlos, ohne Bedeutung; aber jetzt, jetzt endlich, würde ich ihm das geben, was er sich wünschte.
     
    Toby wachte gegen Mitternacht auf, hustend und zitternd, von 40 Grad Fieber geschüttelt.
    Die Augustluft war feucht, drückend, geronnen; sie fühlte sich an wie warmer Klebstoff. Ich erhob mich von meiner Klappliege, nahm meinen Sohn in die Arme, klopfte mit den Fingerknöcheln an die Maske seiner Raketenreise-Sauerstoffversorgung und sagte: »Kumpel, ich muß dir etwas sagen. Etwas Unerfreuliches.«
    »Hm?« Toby umklammerte Barnabas Pavian mit festerem Griff.
    Ich biß mir auf die Innenseite der Backe. »Es geht um diese Xaviersche Seuche. Es ist nämlich so: es handelt sich dabei um eine sehr, sehr schlimme Krankheit. Sehr schlimm.« Ein rasiermesserscharfer Schmerz durchfuhr meine Zunge, als ich darauf biß. »Du wirst nicht wieder gesund werden, Toby. Das wird einfach nicht geschehen.«
    »Das verstehe ich nicht.« Seine Augen steckten tief in den knochigen Höhlen; die Brauen und Wimpern waren spärlich geworden, wodurch sein Blick noch großäugiger, trauriger, ängstlicher wirkte. »Du hast doch gesagt, Mr. Medizin würde mich wieder hinkriegen.«
    »Ich habe gelogen.«
    »Du hast gelogen? Was heißt das?«
    »Ich wollte, daß du glücklich bist.«
    »Du hast gelogen? Wie konntest du das überhaupt?«
    »Hier in Satirev – ist es anders als in unserer alten Stadt, sehr anders. Wenn man sich lange genug hier unten aufhält, kann man lernen, alles zu sagen.«
    Wut stieg in seinem Gesicht auf, rotes Blut pochte unter blauer Haut. »Aber – aber der Nikolaus hat mir doch ein Automatikpony gebracht.«
    »Ich weiß. Es tut mir leid, Toby. Es tut mir schrecklich, schrecklich leid.«
    »Ich möchte auf meinem Automatikpony reiten!« Er weinte –
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