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Die Stadt der Wahrheit

Die Stadt der Wahrheit

Titel: Die Stadt der Wahrheit
Autoren: James Morrow
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für den Fall, daß die Schmerzen so stark würden, daß Meperidin nicht mehr ausreichte. »Ich würde sehr gern mit Ihnen kommen«, sagte sie.
    »Die Wahrheit ist«, entgegnete ich, »daß Toby in einem oder zwei Tagen tot sein wird – habe ich recht? Er ist kein Fall mehr für die medizinische Wissenschaft.«
    »Diese Dinge laufen nicht nach Fahrplan ab«, sagte Dr. Krakower.
    »Er wird vor dem Ende dieser Woche tot sein. Sie können ebensogut hierbleiben.«
    Martina und ich trugen Toby durch Satirev bis zu dem Überlaufkanal an der Ecke Dritte und Bruno-Straße, während Ira Temple dicht hinter uns auf dem Automatikpony ritt, gefolgt von William Bell, der die Weihnachtsgeschenke meines Sohnes in dem Nikolaussack hinter sich her zog. Toby war so abgemagert, daß die Decken ihn vollkommen zu verschlucken drohten; sein kleiner Kopf, der schlaff auf dem Kissen lag, wirkte wie entkörpert, die mißgestaltete Kuriosität einer billigen Jahrmarktsschau, die Requisite zu einer Grand-Guignol-Aufführung. Er umklammerte seinen Plüschpavian mit einer seltsam väterlichen Verzweiflung: Rumpelstilzchen hat endlich sein Baby bekommen.
    Gegen Mittag traf Toby bei seiner standfesten veritasianischen Mutter ein; er hing schlaff über ihre Arme wie die Capa eines Stierkämpfers.
    »Weiß er, wie krank er ist?« fragte sie mich.
    »Ich habe ihm die Wahrheit gesagt«, gestand ich.
    »Das hört sich vielleicht seltsam an, Jack, aber… ich wünschte, er wüßte es nicht.« Helen holte erstaunt Luft, als ein Tropfen Salzwasser sich aus ihrem Augenwinkel ergoß, über die Wange kullerte und auf den Boden tropfte. »Ich wünschte, du hättest ihn angelogen.«
    »Im großen und ganzen ist die Wahrheit immer noch das Beste«, behauptete ich voller Überzeugung. »Das da ist eine Träne«, bemerkte ich.
    »Natürlich ist es eine Träne«, erwiderte Helen gereizt.
    »Das bedeutet…«
    »Ich weiß, was das bedeutet.«
    Weinend trugen wir Toby in sein Zimmer und legten seinen marionettenartigen Körper auf das Bett. »Mom, hast du mein Automatikpony gesehen?« keuchte er, während William und Ira seinen Meperidin-Tropf anschlossen. »Ist er nicht super? Sein Name ist Schokolade.«
    »Es ist ein ganz nettes Spielzeug«, sagte Helen.
    »Mich friert, Mom. Mir tut alles weh.«
    »Das wird dir helfen«, sagte ich und öffnete den Zufuhrhahn.
    »Ich habe auch ein Glücksland. Der Nikolaus hat es mir gebracht.«
    Helens Miene verfinsterte sich und drückte die gleiche Verwirrung aus wie beim Anblick ihrer Träne. »Wer?«
    »Der Weihnachtsmann. Der heilige Nikolaus. Dieser dicke Mann, der über die Erde geht und den Kindern Spielzeug bringt.«
    »Das geschieht nicht, Toby. Es gibt keinen Nikolaus.«
    »Doch, es gibt einen. Er hat mich besucht. Werde ich sterben, Mom?«
    »Ja.«
    »Für immer?«
    »Ja. Für immer. Ich würde fast alles hingeben, damit du wieder gesund wirst, Toby, alles.«
    »Ich weiß, Mom. Ist… ist schon gut. Ich bin… müde. So… schläfrig.«
    Ich spürte, wie sein Geist wegsickerte, wie ihn die Seele verließ. Stirb nicht, Toby, dachte ich. O bitte, bitte, stirb nicht!
    »Wenn du willst«, sagte Martina, »halte ich für eine Weile bei ihm Wache.«
    »Ja«, antwortete ich. »Gut.«
    Wie gelähmt, ausgelaugt, gingen wir anderen ins Wohnzimmer; dieser Ort war jetzt mit entsetzenverbreitenden Gegenständen vollgestellt: dem Automatikpony, der Plüschgiraffe, all dem Zeug. Helen bot sich an, etwas zu essen zu machen – Scheiben vom Anständigem Roggenlaib, belegt mit Eßbarem Cheddarkäse –, doch niemand hatte Hunger. Um das Panoramafenster herum versammelt, blickten wir hinunter auf die Stadt der Wahrheit. Veritas, statt der Wahrheit. Dieser Doppelsinn war mir bis dahin noch nie aufgefallen.
    Ich brachte William und Ira zum Lift und murmelte unzusammenhängende Dankesworte. Im Gegensatz zu den H.E.R.Z.-Mitgliedern brachten sie ihr Mitgefühl auf geschmackvolle Art zum Ausdruck; ihre Traurigkeit war maßvoll, ihre Tränen klein und rationiert. Erst als die Tür des Lifts zuschlug, hörte ich William aufschreien:
    »Das ist nicht gerecht!«
    In der Tat.
    Ich taumelte in Tobys Zimmer. Er zitterte im Schlaf: kalte Träume. Helen und Martin standen bei ihm; meine Frau zappelte nervös mit einem Glas Scotch in der Hand herum, meine Einmal-Geliebte stand fest verwurzelt wie ein Geldbaum da. »Bleib«, sagte ich zu Martina. »Das ist doch in Ordnung, nicht wahr, Helen? Sie ist Tobys Freundin.«
    Anstatt zu antworten, starrte Helen
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