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Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition)

Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition)

Titel: Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition)
Autoren: Sara Gran
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Falls es so was überhaupt gibt.
    Als Polizistin hätte ich versucht, Leon den Mord an Vic nachzuweisen. Aber ich war keine Polizistin. Wahrscheinlich wäre Leon in der Lage, aus Notwehr einen anderen umzubringen. Wer wäre das nicht? Aber die gezielte Planung und Durchführung einer solchen Tat traute ich ihm nicht zu.
    Vics Kontoauszüge waren umfangreich und langweilig. Viele Aus- und Einzahlungen. Als Staatsanwalt verdiente er mäßig gut, seine teuren Krawatten finanzierte er mit Hilfe seines Erbes. Sein Vater Tolliver Willing hatte erfolgreich in Immobilien investiert und sein gesamtes Vermögen dem Sohn hinterlassen. Leons Mutter Vivian, Vics Schwester, hatte einen Musiker geheiratet und war ob ihrer schlechten Wahl enterbt worden. Vic hatte die Immobilien in weiser Voraussicht nicht verkauft, sondern bis zu seinem Tod die Mieten für fünf Wohngebäude im Garden District und im French Quarter eingestrichen. Nun gehörten sie alle Leon. Sie waren hoch gelegen und nicht überflutet worden und hatten in den letzten Jahren ihren Wert nahezu verdoppelt. Schon vor der Katastrophe hatten die Immobilienpreise angezogen und danach noch mehr, weil nur wenige Immobilien übrig geblieben waren.
    Ich beschäftigte mich mit Vics Gerichtsverhandlungen, zumindest mit denjenigen, die ich in Erfahrung bringen konnte. Falls nötig, würde ich seine Fälle später einer genaueren Prüfung unterziehen. Vic war Staatsanwalt gewesen. Wie fast alle Ankläger in New Orleans hatte er viele kleinere Fälle gewonnen und fast alle großen verloren. Es war nahezu unmöglich, Zeugen zu finden, die gegen Drogenhändler oder Mörder aussagten, denn den Zeugen war klar, dass sie die Aussage, unabhängig vom Gerichtsurteil, nicht überleben würden. Keiner der wichtigen Drogendealer arbeitete allein. Selbst, wenn der Angeklagte verurteilt und weggesperrt wurde – was unwahrscheinlich war –, würde einer seiner Geschäftspartner ihn rächen. Zudem war die Polizei von New Orleans, ebenso wie die Staatsanwaltschaft, für ihre Inkompetenz und mangelnde Kooperationsbereitschaft weltweit berühmt. Die beiden Behörden schafften es einfach nicht, gemeinsam eine handfeste Anklage auf die Beine zu stellen. Dass das labyrinthische Rechtssystem von New Orleans immer noch auf dem Napoleonischen Code basierte, machte das Ganze nicht besser. All diese Faktoren zusammen ergaben die höchste Mordrate und gleichzeitig niedrigste Aufklärungsrate des Landes.
    Von den hunderteinundsechzig Morden, die im Vorjahr in New Orleans begangen worden waren, konnte nur in einem Fall der Täter angeklagt und verurteilt werden. Man stelle sich die Ungerechtigkeit vor: einhundertsechzig Kollegen kommen frei, und nur du wanderst in den Knast.
    »Nein, ich käme niemals auf die Idee zu fragen: ›Warum ich?‹«, hatte Silette in seinem letzten Interview nach dem Verschwinden seiner Tochter Belle gesagt. »Denn mein ganzes Leben lang habe ich mich gefragt: ›Warum nicht ich?‹ Es ist nur logisch, dass mir ebenso viel Leid widerfährt wie jedem anderen auch.«

    Ich legte alles in den Aktenorder zurück und schloss ihn weg. Aus meinem Koffer holte ich einen kleinen Musselinbeutel mit vier I-Ging-Münzen. Ich warf die Münzen aufs Bett. Meine Lehrerin Constance Darling hatte mich vor langer Zeit gelehrt, das Münzorakel zu deuten.
    Hexagramm fünfundzwanzig. Ich schlug den Wurf in dem alten, zerfledderten Taschenbuch nach, das Constance mir gegeben hatte, eines von fünf Büchern, die ich auf die Reise mitgenommen hatte: Das Fünf-Münzen-I-Ging, Silettes Détection, Sibirische Giftorchideen: Eine visionäre Deutung, dazu ein Buch über Hexerei in Nordmexiko und einen Roman, den ich im Flugzeug las.
Hexagramm fünfundzwanzig: Schlange auf dem Berg. Die Schlange verschluckt ihren eigenen Schwanz und wird nie satt. Wenn die Königin weint, weint der Reis mit ihr. Ein guter Mann füttert die Schlange mit Reis, bis sie gesättigt ist. Ein Haus ohne Reis ist ein freudloses Haus.
    Ich griff zum Telefon und rief Leon an.
    »Ich würde mir gern Vics Wohnung ansehen«, sagte ich. »Wäre das morgen möglich?«
    »Nein«, sagte Leon, »morgen muss ich einem Bekannten helfen, sein Haus in der Innenstadt auszuräumen. Aber übermorgen wäre möglich. Klar. Prima.«
    »Prima«, sagte ich.
    »Prima«, sagte Leon. »Ach, übrigens. Noch etwas. Könnten wir uns auf einen zeitlichen Rahmen für Telefonate einigen? So bis zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Uhr?«
    Ich sah auf die Uhr. Es
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