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Die Stadt der schwarzen Schwestern

Die Stadt der schwarzen Schwestern

Titel: Die Stadt der schwarzen Schwestern
Autoren: Guido Dieckmann
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wo er sich befand, schien er zu spüren, dass er mehrere hundert Fuß über dem Pflaster in der Luft hing. Er fing sich hektisch zu bewegen an, doch damit erreichte er nur, dass die Schlinge immer näher auf das Ende der Stange zu rutschte.
    Griet erschauerte, während Hanna neben ihr panisch die Hände rang. Ihre Lippen formten lautlos den Namen ihres Mannes.
    Großer Gott, durchfuhr es Griet. War er es? Steckte Frans in dem Teppich?
    Um sie herum begann sich Widerstand gegen das brutale Vorgehen des Statthalters zu regen. In flämischer und auch in spanischer Sprache wurden Flüche ausgestoßen. Nur wenige Schritte von Griet entfernt hoben einige junge Burschen Steine und Erdklumpen auf und warfen sie auf die Rathausfenster und die spanischen Soldaten. Griet wurde angerempelt und grob gegen den Brunnenrand gedrückt. Mit ihrem lahmen Arm hatte sie der aufgebrachten Menge wenig entgegenzusetzen. Beelken kämpfte sich mit Basse zu ihr durch, das Gesicht des Mädchens war kalkweiß. Basse schrie wie am Spieß und streckte seine Ärmchen nach Griet aus, doch sie fühlte sich zu schwach, um den Jungen auf den Arm zu nehmen.
    «Stell dich hinter mich», rief sie Beelken zu. Obwohl sie wusste, dass dies im Falle einer Panik nicht viel nützen würde, schob sie die Kinderfrau näher an den Brunnen heran. Dann blickte sie wieder zu den Fenstern hinauf. In der Schöffenstube, hinter den winzigen Butzenscheiben, glaubte sie, einen hellen Feuerschein wahrzunehmen.
    «Seht, sie verbrennen ihn», kreischte eine Frau vor ihr und deutete hinauf. «Gott sei seiner Seele gnädig!» Aus dem Fenster fuhr eine Faust mit einer Fackel heraus und berührte den Wandteppich, der sogleich Feuer fing. Der Mann im Innern des Teppichs stieß verzweifelte Schreie aus, die aber von dem anhaltenden Lärm auf dem Platz und einer Anzahl von Fanfarenstößen übertönt wurden. Wenige Augenblicke später riss das Seil, und der Teppich fiel auf den Platz hinunter. Kreischend sprangen die Menschen auseinander, um nicht von dem brennenden Wandbehang erschlagen zu werden.
    Griet rührte sich nicht; ihre Füße schienen sich in Blei verwandelt zu haben. Erschüttert sah sie mit an, wie ein weiterer verschnürter Teppich über die Fensterbrüstung gehoben und in die Tiefe geworfen wurde, und dann noch einer und noch einer. Jeder Aufprall wurde von Entsetzensschreien aus der Menge begleitet.
    Längst hatten die jungen Burschen ihren Widerstand gegen die spanischen Wachsoldaten eingestellt; statt sich weiter nach Steinen zu bücken, standen sie nun kleinlaut beisammen oder tauchten gleich ganz in der Menge unter. Griet vermochte nicht zu sagen, wie lange das Strafgericht dauerte; als der Herzog schließlich wieder am Fenster erschien und die Urteile über die aufsässigen Ratsherren für vollstreckt erklärte, war sie einer Ohnmacht nahe. Mit letzter Kraft zwang sie sich, nach ihrer Familie Ausschau zu halten. Sie fand Beelken auf die Knie gesunken, Basse fest umklammernd. Die junge Frau drückte seinen Kopf gegen ihre Brust, um den Jungen von den Geschehnissen abzuschirmen. Er wimmerte leise und versuchte, sich aus Beelkens Griff zu befreien, doch es schien ihm nichts zu fehlen. Griet beugte sich zu ihm hinunter und streichelte ihm über den Kopf.
    Als die Soldaten den Familien und Freunden erlaubten, die Leichen der Ratsmitglieder auf Karren zu laden und wegzubringen, taumelte Hanna Marx schluchzend auf Griet zu. Sie wollte nicht allein zum Rathaus hinübergehen, um unter den Toten nach Frans zu suchen.
    Griet musste ihre Schwiegermutter stützen, die Beine der alten Frau zitterten so stark, dass sie kaum vorwärtskam. Dabei bemühte sie sich verzweifelt, den Qualm zu ignorieren, der von den Überresten des ersten Hingerichteten aufstieg. Hastig schlug sie einen Ärmel vors Gesicht. Doch der schreckliche Gestank schien sich sofort in ihr Gewand, in ihr Haar, ja selbst in ihre Haut einzunisten. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Coen und Adam, die Söhne des Bürgermeisters, mit Hilfe eines Knechts ein Brett herbeischleppten. Vor dem verbrannten Teppich legten sie es nieder. Adam zog etwas aus dem Aschehaufen, das wie ein Ring aussah, und zeigte es seinem jüngeren Bruder Coen, der nach Luft schnappte, bevor er langsam dem Knecht zunickte. Die beiden jungen Männer, deren Leben sich, wie allseits bekannt war, bislang nur um Wirtshäuser und das weibliche Geschlecht gedreht hatte, standen wie betäubt vor den Überresten ihres Vaters. Griet erinnerte sich an
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