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Die Spur des Boesen

Die Spur des Boesen

Titel: Die Spur des Boesen
Autoren: G.M. Ford
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vor und wischte mit der nackten Hand den Schnee von der Windschutzscheibe, die jedoch auch von innen völlig vereist war. Ob jemand im Pickup saß, ließ sich nicht erkennen. »Ich sehe nichts«, rief Dougherty über den Sturm hinweg.
    Corso zog sie auf die andere Seite des Wagens, fummelte am Fahrgestell herum, trat einen Schritt zurück und stieß mit dem Fuß gegen das Eis. Viermal, bis ein schmutziges Stück Eis auf seine Stiefel fiel, das ein rostiges Auspuffrohr mit Topf umhüllte. Corso ließ Doughertys Hand los, packte den Türrahmen und stellte seinen rechten Fuß auf das Auspuffrohr, zog sich nach oben und blickte ins Führerhaus.
    Er blinzelte und rieb sich die Augen, versuchte, seinen kaleidoskopischen Blick zu fokussieren. Unten im Führerhaus, eng an das Fenster gequetscht, lag ein alter Mann. Mausetot. Weiß gefroren und teilweise mit Schnee bedeckt. Corso hievte sich hinauf, stützte sich mit dem Bauch auf dem Türrahmen ab. Mit der rechten Hand strich er über den gefrorenen Fahrer, als könne er ihn wieder zum Leben erwecken, indem er ihn vom Schnee befreite. Hinter ihm rief Dougherty mit vor Kälte zitternder Stimme seinen Namen, weil sie wissen wollte, was er im Wagen gefunden hatte.
    Corso wollte schon wieder zurückrutschen, als er bemerkte, dass der Tote seinen Arm seltsam angewinkelt hatte. Corso wischte den Schnee von Hand und Arm. Ihm stockte der Atem — der alte Mann hatte seine letzten Augenblicke damit verbracht, sich mit einem gelben Feuerzeug zu wärmen, das er in seinen steifen, toten Fingern hielt. Irgendwo in seinem Innern hörte Corso eine Stimme, die ihn fragte, ob eine solche jämmerliche, sinnlose Geste nicht eine passende Metapher für das Leben an sich war. Kerze im Wind und so was. Dann griff er aus Gründen, die er nicht erklären konnte, nach dem Feuerzeug. Der Mann hielt es fest umklammert. Mithilfe seiner anderen Hand bog Corso einen Finger nach dem anderen auf. Mit dem Geräusch von knisterndem Zellophan gaben sie nach, bis das Feuerzeug in Corsos Hand fiel.
    Als er sich wieder aus dem Führerhaus wand, fand Corso mit den Füßen Halt auf dem Fahrgestell und ließ sich geräuschlos auf den Boden fallen. Dougherty hüpfte von einem Fuß auf den anderen und drückte Tasten auf ihrem Handy. Ihr Haar war vollkommen mit Schnee bedeckt.
    »Keinen Empfang«, rief sie.
    »Da drin sitzt ein alter Mann. Steinhart gefroren.«
    Sie steckte das Telefon ein. »Daaas weeerden wir auch baaald sein, weeenn wir hiiier nicht verschwiiinden.«
    Als wollte er sie damit trösten, reichte Corso ihr das mit Eis überzogene Feuerzeug. Sie verzog das Gesicht.
    »Himmel, Corso«, rief sie. »Bei dir muss sich was im Kopf gelockert haben. Was soll ich damit, verdammt noch mal? Los, komm jetzt.« Sie riss ihm das Feuerzeug aus der Hand und zog ihn den Hügel hinunter.
    Ein paar hundert Meter und drei Haarnadelkurven später wurde die Straße wieder etwas flacher. Schulter an Schulter zitterten sie gemeinsam im arktischen Wind. Fast einen Kilo-meter weiter stolperten sie auf der ebenen Straße unter einem Bogengang aus nackten Bäumen dahin, als Dougherty zu taumeln begann und auf die Knie fiel. Sie blickte zu Corso auf. »Meine Beine«, stotterte sie. »Ich spüre sie nicht mehr.«
    Corso zog sie wieder auf die Füße. »Du musst weitergehen«, sagte er. Sie nickte. Machte einen einzigen Schritt und kippte vornüber in den Schnee.
    Corso ließ sich auf ein Knie sinken, hob Dougherty auf die Arme und stand mühsam wieder auf. Dann trottete er weiter, einen langsamen Schritt nach dem anderen, kämpfte sich mit hin und her wiegenden Schultern die schmale Straße entlang.
    Dougherty zog sich in sich selbst zurück. An einen Ort, wo der Rest des Universums nicht existierte. Eine Welt, in der die Stimme in ihrem Kopf der einzige Klang war und die gesamte Schöpfung nur aus den von ihrer Stimme gezeichneten Bildern erstand.
    Sie stellte sich den alten Mann im Pickup vor. Fragte sich, wie lange er mit seiner Hoffnung durchgehalten hatte. Ob es schließlich einen Moment gegeben hatte, in dem er gewusst hatte, dass er sterben würde. Hatte er diesen letzten Moment genutzt, um dem Universum seinen Widerstand entgegenzuschreien? Oder hatte er sich demütig der endlosen Kälte der Nacht ergeben? Sie dachte über Hoffnung nach. Darüber, wie es sein mochte, als Einzige übrig geblieben zu sein, nachdem diese dumme Pandora ihre Büchse geöffnet hatte. Sie dachte darüber nach, wie aus dem unwiderruflich Bösen
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