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Die spaete Ernte des Henry Cage

Die spaete Ernte des Henry Cage

Titel: Die spaete Ernte des Henry Cage
Autoren: David Abbott
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ein paarmal nach einem imaginären Ball und konnte wieder ohne Hilfe stehen. In der Küche war es fast dunkel, nur eine kleine Lampe auf der Anrichte warf ein wenig Licht. Sie hatten ihn offensichtlich schlafen lassen wollen. Ihre Rücksicht schien unpassend.
    »Oh, du bist wach.«
    Sein Sohn betrat die Küche.
    »Wir bringen jetzt Beth heim. Wir können dich absetzen, wenn du möchtest.«
    »Nein. Ich habe geschlafen. Ich kann selbst nach Hause fahren.«
    Plötzlich hielt er seinen Sohn in den Armen.
    »Es war ein Unfall, Dad – ein Unfall.«
    Henry erwiderte nichts, hielt ihn aber fest umarmt. In den Haaren und in der Kleidung seines Sohnes hing der Geruch von Holzrauch. Die Familie musste wohl im Vorderzimmer Feuer gemacht haben, nicht der Wärmewegen, dachte Henry, sondern weil es an solch einem Tag unerträglich war, in einen leeren Kamin zu starren. Er gab seinem Sohn einen Kuss auf die weiche Haut an der Schläfe und ließ ihn los.
    Henry trug noch immer seinen Anzug und saß in einem Sessel, als das Telefon klingelte. Er wusste, wie spät es war, er hatte Radio gehört – irgendwelchen Unsinn über den Wiederaufbau im Irak. Es war vier Uhr früh; dennoch überraschte es ihn nicht, einen Anruf zu bekommen. Henry erhob sich langsam aus seinem Sessel; als er zum Telefon ging, trat er auf sein Buch. Er nahm an, dass es sein Sohn war.
    Er erkannte die Stimme seiner Schwiegertochter.
    »Ich habe dich nicht geweckt, oder?«
    »Nein, du hast mich nicht geweckt.«
    »Das ist auch gut so. Wenn ich schon nicht schlafen kann, dann sollst du das auch nicht.«
    Noch bevor Henry darauf antworten konnte, hatte Jane aufgelegt. Die Schuldzuweisung, endlich. Das war das erste Mal, dass Jane seit dem Tod ihres Sohnes mit ihm gesprochen hatte.

    »Viel Spaß. Und holt euch keine nassen Füße!«
    Jane hatte an der Haustür gestanden und ihnen nachgerufen, als sie losfuhren. Henry war gekommen, um mit Hal einen Ausflug zu machen. Sie wollten zum Fotografieren ins Vogelschutzgebiet. Sein Enkel hatte ein gutes Auge, und er war geduldig. Er konnte, wenn nötig, eine Stunde lang reglos im Schilf sitzen. Eigentlich merkwürdig.Daheim war er so quirlig wie die meisten kleinen Jungen, doch am See wurde er groß. Sie beide wetteiferten gern miteinander und hatten diese Ausflüge in ein spielerisches Kräftemessen verwandelt. Jeder machte fünf Fotos, die abwechselnd mit derselben Kamera aufgenommen wurden, so lautete die Spielregel. Zu Hause überspielte Henry die Bilder auf seinen Computer, und Hals Eltern bestimmten dann später das Siegerfoto. Meist gewann ein Foto des Jungen.
    Das Vogelschutzgebiet lag nur fünfzehn Meilen entfernt, und selbst am Wochenende war auf den Straßen nicht viel los. Sie beeilten sich nie – dafür war der Wagen nicht geeignet, vor allem aber genossen sie die Zeit, die sie hatten, um miteinander zu reden. Am See gab es nur noch Flüstern und Zeichensprache.
    An jenem Nachmittag hatte er eine gute Geschichte zu erzählen.
    »Was denn, Opa, was ist passiert?«
    »Das ist eine von meinen wahren Geschichten, okay?«
    Der Junge hatte gelächelt.
    »Also, du weißt doch, wie früh ich aufstehe. Heute Morgen bin ich wie immer die Zeitung holen gefahren, kein Mensch unterwegs. Auf dem Rückweg, kurz nach der Buckelbrücke, wo ich langsamer werde, um nach links abzubiegen, habe ich sie gesehen.«
    Henry hatte innegehalten und zu dem Jungen hinübergeschaut, der nur die Stirn gerunzelt hatte; mit acht war er schon alt genug, um eine dramatische Pause genießen zu können.
    »Eine Schleiereule. Sie kam vom Feld herüber und flog neben dem Wagen. Ich hatte das Fenster offen, und die Eule flog keine anderthalb Meter von mir entfernt auf Augenhöhe. Sie war genauso schnell wie der Wagen, und ehrlich, sie starrte mich die ganze Zeit an – so, als ob ich eine leckere Feldmaus wäre.«
    Henry war mit einem Kichern belohnt worden.
    »Ich fuhr dreißig, und der Vogel blieb zweihundert Meter bis zur Abbiegung neben mir und hielt das Tempo, ohne groß die Flügel zu bewegen.«
    Henry hätte noch mehr sagen können. Er hätte sagen können, dass es sich wie ein Segen angefühlt hatte. Dass er über den Kopf des Vogels gestaunt hatte – aus der Nähe betrachtet war er noch flacher, als man glaubt. Es war wie ein Geschenk Gottes gewesen. Wie der Anblick eines Eisvogels, eine Auszeichnung, ein gutes Omen.
    Wie kann man sich nur so täuschen?

    Henry kochte sich Kaffee. Es standen bereits drei volle Becher auf der Spüle. Sie
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