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Die spaete Ernte des Henry Cage

Die spaete Ernte des Henry Cage

Titel: Die spaete Ernte des Henry Cage
Autoren: David Abbott
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arbeiteten und ihm noch nie begegnet waren, wurden von den gegensätzlichen Gefühlen des Tages mitgerissen: Trauer über seinen Weggang, Dankbarkeit für alles, was er getan hatte, aber auch Aufregung über die Aussicht auf Veränderung.
    Seine drei Partner präsentierten sich wortgewandt, jeder von ihnen verteilte großzügig Lob. Während er an das Pult trat, um seine Abschiedsrede zu halten, bemerkte er,dass sich alle von ihren Plätzen erhoben hatten. Es gab Applaus, eine tobende See in seinen Ohren, und er stand da und wartete, dass das Rauschen verebbte, und lächelte in die Dunkelheit über den Köpfen des Publikums.
    Später im Pub meinte das Videoteam, das sei die längste Ovation gewesen, die sie je gefilmt hätten. »Nicht, dass es sonderlich was zu filmen gab, Henry stand fünf Minuten lang da, und die anderen klatschten sich die Hände wund. Und dabei hatte er noch kein einziges Wort gesagt.«
    Henry hatte sich mit seiner Ansprache die größte Mühe gegeben. Er wusste, alle erwarteten die Rede seines Lebens – die Quintessenz aus dreißig Jahren in der Firma, eine Auflistung dessen, was man tat und was man nicht tat, eine Formel, damit alles so blieb, wie es war –, obwohl sie doch im Innersten gewusst haben mussten, dass eine solche Rede gar nicht möglich, ja vielleicht nicht einmal wünschenswert war. Henry wusste das ebenfalls, außerdem wollte er keine staatsmännische Rede halten. Zu alten Zeiten hätte er alle inspiriert, ihnen Mut zugesprochen und sie mit frischer Energie und neuem Enthusiasmus an ihre Schreibtische zurückgeschickt. Nun wollte er sich nur noch verabschieden und verschwinden. Irgendwie hatte er die richtigen Worte dafür gefunden, und wenn auch die Zuhörer das alte Feuer vermissten, so war ihnen doch die milde Aufrichtigkeit seines Abschieds aufgefallen.

    Am Freitag, dem letzten Tag einer langen Woche, räumte Henry sein Büro. Äußerlich betrachtet, erschien er allen als gepflegter Mann; nur er wusste, welches Chaos in denSchränken herrschte, die so edel mit Buchenfurnier und gebürstetem Aluminium verkleidet waren. Henry warf fast alles fort: Briefe, Karten, Dokumente, Fotografien. Man hatte Kisten hinaufgeschickt, um die Bücher zu packen, die eine Wand seines Büros einnahmen. Seine Bücher waren ihm ein täglicher Trost gewesen, eine Bestätigung dafür, dass selbst im Geschäftsleben Raum für Kontemplation war. Nun ging ihm auf, dass er sie nicht mehr haben wollte. Henry kritzelte eine Notiz, dass die Bücher verschenkt werden sollten. Seine Auszeichnungen, Zertifikate und Diplome ließ er hängen. Er fragte sich, ob sie wohl im Archiv oder im Papierkorb landen würden. Ihm war es egal.
    Es war bereits nach einundzwanzig Uhr, als Henry den Fahrstuhl ins Untergeschoss nahm. Selbst an einem Freitagabend war zu dieser Uhrzeit im Gebäude noch viel los. In den Konferenzräumen wurde an den Präsentationen für die kommende Woche gearbeitet. Oft blieben die Angestellten die ganze Nacht über dort, und die Konferenztische waren übersät mit Schaubildern und Essensresten. Wenn das Reinigungspersonal bei Tagesanbruch eintraf, konnte es schon am Empfang riechen, welches Ausmaß die vor ihm liegende Arbeit hatte.
    Der Fahrstuhl passierte den vierten Stock; Henry wusste, dass Dan Priestly noch immer an seinem Schreibtisch saß. Er arbeitete nicht, er wartete, das war seine eingefahrene abendliche Routine. Erst das Kreuzworträtsel in der
Times
, dann Fernsehen, bis es Zeit war für den letzten Zug nach Hause zu einer Frau, die er nicht mehr liebte.Ein Jahr später behauptete sie in aller Unschuld vor dem Scheidungsrichter, die Arbeitsbelastung durch die Firma habe ihre Ehe zerstört.
    Es gab viele Gründe dafür, so spät noch hier zu sein, deshalb war Henry nicht überrascht, als der Fahrstuhl im zweiten Stock hielt. Eine junge Frau stieg ein, die er nicht kannte. Es machte sie nervös, in der Kabine auf ihn zu treffen. In der Verwirrung sah er, dass sie groß war und dunkle, kurz geschnittene Haare hatte. Sie trug einen langen schwarzen Mantel.
    »Erdgeschoss?«, fragte er. Noch bevor er den Knopf betätigen konnte, gingen die Türen zu, und sein Finger schwebte in der Luft.
    Sie lächelte.
    »Ich bin Maude, eine der neuen Uni-Absolventinnen. Ihre Rede am Mittwoch hat mich berührt. Schade, dass wir nicht länger miteinander zu tun hatten.«
    Auch er bedauere das, entgegnete Henry, dann fiel ihm nichts mehr ein, was er hätte sagen können. Er stand da und schaute auf
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