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Die spaete Ernte des Henry Cage

Die spaete Ernte des Henry Cage

Titel: Die spaete Ernte des Henry Cage
Autoren: David Abbott
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mussten schon seit Tagen dort gestanden haben, denn eine Staubschicht hatte die schwarze Oberfläche grau werden lassen. Er stellte die frische Tasse daneben und öffnete die Hintertür zum Garten. Die Nachtluft war kalt, also schloss er die Tür wieder. Die Banalität der Trauer: endlose Wiederholungen sinnloser Verrichtungen. Zwei Wochen lang hatte Henry die inneren Grenzen seines Hauses abgeschritten, hatte Fenster geöffnet und wieder geschlossen, Schränke kontrolliert, in den leeren Kühlschrank gestarrt, war die Treppehinaufgestiegen und hatte sich gefragt, warum. Selbst die Musik hatte ihm keine Linderung verschafft. Immer wieder hatte er sich ans Klavier gesetzt, sich aber nicht überwinden können zu spielen. Später am Tag hatte dann die Erschöpfung Oberhand über seine Ruhelosigkeit gewonnen und ihn in einen Sessel gezwungen, wo er gesessen und auf den Schlaf gewartet hatte. Jetzt, mit erfolgter Schuldzuweisung, war diese Phase vorüber. Henry kehrte ins Wohnzimmer zurück und nahm die Flasche mit den Schlaftabletten vom Kaminsims. Versuchen wir es mal mit Vergessen, dachte er.

    Stunden später wachte Henry wieder auf. Sein Mund war trocken; sein erster Gedanke galt dem Jungen und den Ereignissen, die er aus seinem Gedächtnis löschen wollte. Nach und nach nahm er Geräusche wahr, ein häusliches Duett aus fließendem Wasser und Tellerklappern. Unten war jemand. Seine Haustür war niemals abgeschlossen. Er hatte sich das zum Prinzip gemacht, als er von London hierhergezogen war, einer der Gründe für den Umzug nach Norfolk. Er hatte glauben wollen, das, was ihm in London passiert war, sei der Anomalie einer großen Stadt geschuldet; dass hier an der Straße nach Nirgendwo die alten Gewissheiten noch galten, dass man Haus und Wagen noch offen lassen konnte und dass einem kein Leid geschehen würde. Man hatte ihn gewarnt. Die Zeiten hatten sich geändert. Seine Romantisiererei könne gefährlich sein.

    Auf der Fahrt zum See hatten Henry und Hal an Bartons Tankstelle gehalten, eine der letzten freien Tankstellen, deren zwei Zapfsäulen nur selten benutzt wurden. Ortsansässige und Touristen bevorzugten den Service und die niedrigeren Preise der Shell-Tankstelle drei Meilen weiter am Kreisverkehr. Der alte Barton hatte seine nutzlosen Werkstattbuchten in einen Minimarkt umgewandelt, und es kam reichlich Kundschaft. Hier konnte man Lebensmittel in Dosen und Jumbopackungen Tiefkühl-Pommesfrites kaufen, Bindfaden, Schuhcreme, einen Sack Kohlen, Brot, Zeitungen und Obst, Gemüse und Blumen der Saison aus den umliegenden Farmen und Gärten. Die Produkte wurden auf Tischen draußen angeboten, und meist war jemand da, der die Waren begutachtete.
    Es gehörte zum Ritual von Großvater und Enkelsohn, bei Barton zu halten und eine Flasche eisgekühltes Mineralwasser mit zum See zu nehmen. Als Henry dem Jungen das erste Mal von seinem »Gesöff« abgegeben hatte, musste dieser bei der Entdeckung dieses neuen, leicht anrüchig klingenden Wortes laut lachen. Seitdem war das ihr Name für Wasser in Flaschen gewesen.
    »Ich hole das Gesöff.«
    Henry war aus dem Wagen gesprungen, wie er das unzählige Male zuvor getan hatte, hatte die Tür offen und den Motor laufen gelassen. Ach ja, und auf dem Rücksitz hatten Fototasche und Stativ gelegen. Henry zuckte bei dieser Erinnerung zusammen. Später hatte er bei der Polizei erklärt, dass er den jungen Mann an den Tischen wohl bemerkt, sich aber nichts dabei gedacht habe.
    Henry war vielleicht ein paar Minuten in dem Laden gewesen. Er wäre früher fertig geworden, wenn ihm Bartons verheiratete Tochter nicht noch ein Tombola-Los verkauft hätte, als er hatte bezahlen wollen. Sie hatte ihn gebeten, Namen und Telefonnummer auf den Abreißzettel zu schreiben. Tage später hatte er das wiederholt und dabei die Zeit gemessen. Fünfzehn Sekunden. Es hätte also gar keinen Unterschied gemacht. Ihr konnte er keine Schuld geben.
    Was in der Zeit geschah, während er im Laden war, erfuhr Henry später aus der polizeilichen Vernehmung des jungen Mannes. Lance Rivers war achtzehn und heroinabhängig. Er war per Anhalter zum Haus seiner Großmutter in Lincoln unterwegs, die letzte Angehörige, die ihm noch Unterschlupf gewährte. Lance hatte sich gerade ein paar Früchte vom Tisch eingesteckt und kam an dem Wagen vorbei, als er die Kameratasche bemerkte. Spontan sprang er in den Wagen und erschrak, als er den Jungen sah. Er brüllte ihn an, er solle aussteigen, und als der Junge die
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