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Gefahrliches Vermachtnis

Gefahrliches Vermachtnis

Titel: Gefahrliches Vermachtnis
Autoren: Richards Emilie
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PROLOG
    New Orleans, 1965
    D ie schwüle Mailuft war getränkt mit dem Geruch nach getrockneten Rosenblättern, Vetiver und Tod. Es gab kein Entkommen. Aurore war gerade aufgewacht. Ihr graute davor, Luft zu holen. Noch beunruhigender war nur der Gedanke, dass sie schon wieder von Rafe geträumt hatte.
    Rafe erschien ihr immer, wenn sie ihn am wenigsten erwartete. Es gab auch andere Geister, die sie im Traum verfolgten und in den Momenten, wenn sie darüber nachdachte, wie wenig Zeit ihr noch blieb. Aber Rafe kam nur, wenn sie tief und fest schlief. Rafe, der Episoden aus ihrem Leben pflückte wie Wildblumen auf einer Sommerwiese und der sie ihr dann vor Augen hielt.
    Aurore zwang sich, zu atmen, obwohl die Luft immer drückender zu werden schien. Sie hatte den Hausangestellten verboten, in diesem Teil des Hauses die Klimaanlage anzustellen. Man hatte die Fenster geschlossen, während sie schlief; vermutlich damit das Gekreische der Spottdrosseln draußen auf dem Magnolienbaum sie nicht weckte. Das Personal verstand einfach nicht, dass Aurore jeden wachen Moment als kostbares Geschenk betrachtete. Ein Geschenk, das nur alte Menschen wirklich zu schätzen wussten.
    Aurore war alt, obwohl sie es jahrelang geleugnet hatte. Mit sechzig war sie davon überzeugt gewesen, dass Aktivität ein wirksames Mittel gegen das Altern war, und mit siebzig hatte sie geglaubt, sie könnte den Tod genauso hartnäckig ignorieren wie andere unerfreuliche Dinge des Lebens. Inzwischen war sie siebenundsiebzig, und der Tod lungerte schon seit Wochen in ihrem Schlafzimmer herum. Beim ersten Anzeichen von Schwäche würde er sich auf sie stürzen. Doch sie war noch nicht bereit zu sterben. Nochnicht. Es gab zu viele Geheimnisse, die darauf warteten, gelüftet zu werden.
    Aurore hatte fast zu lange damit gewartet. Sie hätte ihre Familie schon vor Jahren zusammenrufen und wie eine herrische Matriarchin zwingen sollen, den Geschichten einer alten Frau zuzuhören. Sie hätten es nicht gewagt, sich ihrer Aufforderung zu widersetzen.
    Aber sie hatte gewartet. Aber jetzt, wo der Tod bereits seinen Anspruch auf sie erhob, konnte sie es nicht länger aufschieben. Als sie die Augen öffnete, stellte sie fest, dass es draußen bereits dunkel wurde. Sie hatte die Dämmerung immer als besonders friedvoll empfunden. Nun blieb ihr keine Zeit mehr, um innezuhalten. Niemals wieder.
    Neben dem Bett raschelte die gestärkte Tracht einer ihrer Pflegerinnen. Aurore bemühte sich, sich verständlich zu machen. „Ist Spencer schon da?“
    „Ja, Mrs Gerritsen.“
    Aurore, in deren Ohren die eigene Stimme rau und profan klang, war glücklich, dass man sie verstanden hatte. „Wie lange ist er schon hier?“
    „Seit fast einer Stunde. Ich habe ihm gesagt, dass Sie geweckt werden wollten, aber er hat es nicht zugelassen.“
    „Er beschützt mich.“ Aurore befeuchtete den Mund mit der Zunge. „Wie immer.“
    „Möchten Sie etwas Wasser?“
    Aurore nickte. „Nur ein Schlückchen. Dann … Spencer.“
    „Sind Sie sicher, dass Sie sich gut genug fühlen?“
    „Wenn ich warten würde, bis ich mich besser fühlte … würde ich ihn nie wiedersehen.“
    Die Schwester nickte, während sie Wasser aus einer Karaffe in ein Glas goss, das sie an Aurores Lippen führte. „Kann ich noch etwas für Sie tun, bevor ich Mr St. Amant hole?“
    „Die Fenster. Ich will nicht, dass sie … wieder geschlossen werden. Nie mehr.“
    „Ich öffne auch die Balkontüren.“
    Draußen zirpten die ersten Zikaden des Jahres. Die Luft traf feucht auf Aurores Haut. Für einen Augenblick war sie wieder siebzehn und stand im nebligen Dunst am Ufer des Mississippis. Sie beobachtete, wie Barkassen und Dampfer gegen die Strömung ankämpften, während sie darauf wartete, dass ihr Leben begann.
    „Aurore.“
    Aurore blickte den Mann an, der seit fast fünfzig Jahren ihr Anwalt war.
    „Wie fühlst du dich, meine Liebe?“, fragte Spencer.
    „Alt. Es tut mir leid, dass ich alt bin.“
    Spencer ließ sich in dem Sessel nieder, den die Schwester neben das Bett geschoben hatte. „Tatsächlich? Ich erinnere mich noch gut an dich, als du jung warst.“
    „Du erinnerst dich an zu viele Dinge.“
    „Manchmal kommt es mir auch so vor.“ Er nahm ihre Hand. Seine Haut war trocken. Er zitterte, als er ihre Hand umschloss.
    Ihre Gedanken schweiften ab, was inzwischen häufig geschah. Sie erinnerte sich an einen Tag in Spencers Büro in der Canal Street vor vielen Jahren. Das Büro gab es immer noch,
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