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Die Sonnenposition (German Edition)

Die Sonnenposition (German Edition)

Titel: Die Sonnenposition (German Edition)
Autoren: Marion Poschmann
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Fieberblick auf das Tribunal unglaubwürdiger Büsche, das das Gartenmäuerchen verdeckte. Fixierte hitzig die schneebeladenen Zweige der Tannen, die abgestorbenen Halme eines Ziergrases, die Ziegel, die im Schnee nach Moos und Moder rochen. In seinen Augen glomm plötzlich Lust am Aufruhr, er verlangte von mir das Feuerzeug, steckte das Ziergras in Brand, das auch brav entflammte. Er kokelte an einem lästig überstehenden Zweig, aber der hing naß und schneeig und entzündete sich nicht. Achtlos wandte er sich ab, dann hing der Zweig in seinem Rücken, dunkel geädert wie der Flügel der Gemeinen Stubenfliege. Odilo sengte sich den Ärmel an und kicherte blöde, und ich hinderte ihn daran, am Nachbarszaun zu zündeln, führte ihn statt dessen zu meinem Wagen, setzte ihn auf den Beifahrersitz und schnallte ihn an. Hatten wir einen lustigen Abend? In der Unterführung kurbelte er das Fenster herab und begann lauthals zu singen. Unterbrach sich: Welche Lieder meine Familie nochmal gesungen hätte am Weihnachtsabend? Keine Lieder, brummte ich unwirsch, Fenster zu, es ist kalt, und er ernüchterte innerhalb von Sekunden und kurbelte folgsam die Scheibe wieder hoch.
    Wir kurvten eine Weile um das Endenicher Ei. Auf dem Rückweg scherte ich aufs Feld aus und drehte auch hier einige Runden, ich fuhr keine Kornkreise, sondern eine Unendlichkeitsschleife. Immer noch sprühten einzelne Feuerwerkskörper in die Luft, das Feld lag im Schwarzpulverdunst.
    Barocksonnen, sang Odilo vor sich hin, und es war mir unendlich peinlich, daß er mit dem Singen nicht aufhörte, Barocksonnen, sang er, Doppelsonnen, Nebensonnen.
    Selbstfliegende Felder, wie witzig, guck mal.
    Die Sonne geht auf. Wir sind die Sonne.
    Als wären wir unschuldig, aber woran?
    Odilo war betrunkener, als ich gedacht hatte.
    Doppelsonnen, sang er: zwei Freunde, die umeinander kreisen. Doppelsonnen: Eine ist meist kleiner und halb verdeckt. Unsichtbare Sonnen, unrealistische Sonnen, Sonne unterhalb des Horizonts. Nebensonnen. Gegensonnen. Die Idee einer Gegensonne gefiel ihm besonders.
    Parhelion – Scheinsonne, posaunte er in die Nacht, Scheinsonne – Sonnenschein, völlig verrückt. Sundog, prahlte er, Schoßhund der Sonne, und wenn wir diesen entführten, wäre doch unser Sieg über jene schon näher gerückt.
    Vor seinem Haus öffnete ich den Kofferraum, nahm das Bleigießset heraus, dessen ich mich bei meiner Ankunft vor Mitternacht noch zu sehr geschämt hatte, und bugsierte ihn mitsamt dem Set ins Haus.
    Bleigießen. Ich goß einen Tannenzweig. Er goß eine undefinierbare Masse mit Auswüchsen, die er nicht deuten konnte.

28 Die rotierenden Orte
    Ich hatte von einem entnadelten Tannenbaumskelett geträumt, dessen Zweige dicht mit moosgrüner Wolle umhäkelt waren, eine paßgenaue warme Hülle.
    Es war der Tag, an dem Odilo mich im Schloß besuchen kommen wollte. Den ganzen Vormittag über ging mir der Tannenbaum nicht aus dem Kopf. Er lag in meinem Traum an einem Wegesrand, wie unser Kliniktannenbaum vor einigen Wochen draußen gelegen hatte, abgetakelt und abgeschmückt. Diese Anstaltstanne hatte vom ersten Tag an genadelt, sie hatte genadelt, noch bevor sie überhaupt, mit einer Schnur Elektrokerzen umwunden, in der Eingangshalle stand. Erst hatten mehrere Personen, mit Leitern und Seilen ausgerüstet, den Baum aufstellen müssen. Dann wurde der Hausmeister gesichtet, der eine Kabeltrommel hinter sich herzog. Er führte endlose Kabelschlangen durch die Halle, weil es in der Ecke, die man für den Baum gewählt hatte, keine Steckdosen gab. Später kam er mit dem Besen und fegte die Nadeln auf. Als der Baum abgebaut wurde, war er bereits sehr schütter. Die letzten Nadeln lösten sich, als er draußen lag und darauf wartete, zersägt, dann verheizt oder kompostiert zu werden. Auch mein geträumter Baum war vollständig kahl, aber die Nadellosigkeit spielte keine Rolle, da er diesen wohligen Wollmantel besaß, der jeden Zweig einzeln umschloß, ein Mantel in Tannenform, von trügerischer Gemütlichkeit.
    Während ich am frühen Morgen mein Zimmer aufräumte, die Fenster aufriß und gewissenhaft lüftete, klammerte ich mich andas vage tröstende Nachgefühl dieses Traums. Schon am Vorabend hatte ich das Bedürfnis verspürt, den Pflegern Dampf zu machen, sie anzuhalten, einmal, nur einmal mit analer Gründlichkeit aufzuräumen, sich in einem weniger ruppigen Umgangston zu versuchen, auch die Patienten besser anzuziehen, ein einziges Mal nicht die ewige
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