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Die Sonnenposition (German Edition)

Die Sonnenposition (German Edition)

Titel: Die Sonnenposition (German Edition)
Autoren: Marion Poschmann
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Christmette. Sidonia in eine Decke gehüllt, Johannes bis zur Nase unter einem Schaffell, die Mutter, ein wollenes Tuch umgebunden, singt.
    Zudecken: Bei der Großtante seitens der Mutter in Köln, die ihre Söhne beide verloren hat, und der Sidonia nichts recht macht. Dort mit Johannes in einem schmalen Bett, Johannes, der sich an ihre Hand klammert und auch im Schlaf nicht losläßt.
    Aufdecken: Gänsedaunen werden in ein Oberbett gestopft, Sidonia sitzt neben dem Ofen und ißt ein Schmalzbrot, Johannes, noch auf allen vieren, versteckt sich kichernd, bedeckt sich mit Federn.
    Zudecken: Sosenpichlers, die Nachbarn linker Hand, die an einem kalten Abend aufbrechen zu Wanderungsbewegungen durch Europa, ein Oberbett im Gepäck.
    Aufdecken: Der Kölner Pfarrer hat sein Wohnzimmer frisch tapeziert. Als Haushälterin serviert sie ihm und seinen Gästen ihren vielgelobten Schonkaffee.
    Im Zimmer brannten nur die Kerzen am Baum. Sie ließen die Kugeln und das Lametta funkeln, und sie überzogen auch uns mit diesem Funkeln und Flackern. Eine unstete Bewegung glitt über die Gesichter und verschönerte sie, ließ die Augen glänzen, hob die Rundung eines Kinns hervor, vertiefte die Schatten zu etwas Samtigem, das mit der Tiefe des Zimmers verschmolz. Ich sah uns vor der geschmückten Tanne, umhüllt von den glitzernden Partikeln, als seien wir selbst diejenigen, die sie versprühten, hell hervortretende Köpfe, umgeben von schimmerndem Haar, hinter uns lange lamettahelle Schweife, Erinnerungen, die wir durch Raum und Zeit nachzogen. Von draußen, von der Straße aus konnte man uns leuchten sehen, Kometen, die sich einmal im Jahr auf ihrer Bahn trafen.
    Ich erwachte bei Tagesanbruch vom Schaben des Schneeschiebers vor dem Haus. Mein Vater hatte in diesem Jahr einen besonderen Ehrgeiz entwickelt, den Schnee auf der Zufahrt so früh und so gründlich wie möglich zu räumen. Er hatte den Eindruck gewonnen, daß die Nachbarn, die viel später, wenn es schon richtig hell war, aus der Tür traten, etwas pikiert auf ihr eigenes dick zugeschneites Wegstück und seine strahlend rein daliegende Fläche blickten, und er hatte sich vorgenommen, hier den Winter über der Nachbarschaft ein leuchtendes Vorbild zu sein. Er schaufelte den Schnee, der ja irgendwohin mußte, an den Zaun, und dieser Zaun war jetzt bereits nicht mehr sichtbar, nur noch die Spitzen ragten heraus. Er schaufelte sehr systematisch, er kratzte über die Stellen, an denen der Schnee schon festgetreten war, damit man dort später nicht ausrutschte, und wenn es nichts mehr zu schaufeln gab, holte er den Straßenbesen und fegte die letzten Flocken an den Rand.
    Am Abend wanderten wir durch die Neubausiedlung, und mein Vater kommentierte die Räumleistungen der Anwohner. Erst schaufeln, dann streuen, hatte er uns seit Kindheitstagen eingeschärft, und kritisch, aber mit triumphalem Unterton wiederholte er diese goldene Regel, als wir über einen Pfad voller halbflüssigem, knöcheltiefem Schneematsch stapften, in dem sich rosa Salzkristalle auflösten und der Masse eine graurosa Färbung verliehen. Mit einigen Partien des Bürgersteigs schien mein Vater halbwegs zufrieden. An manchen Stellen mußten wir storchig die Beine heben, ohne verhindern zu können, daß es uns kalt in die Schuhe rieselte, aber zumindest teilweise war der Schnee weggeschafft. Es gab, stellte mein Vater fest, einige Anwohner, die ihren Pflichten halbwegs korrekt nachgekommen waren, wenn auch natürlich niemand imstande gewesen war, so scharfkantig und so ebenmäßig zu schaufeln wie er.
    Wir brachten Tante Sidonia zur Bushaltestelle. Normalerweise chauffierte mein Vater sie am Nachmittag des zweiten Feiertages zurück nach Köln. In diesem Jahr traute er sich nicht den Hang hinauf. Die Nebenstraßen waren nicht vom Schnee befreit, erst zwei Tage vor Silvester würde man es wieder wagen können, sie zu befahren.
    Es ging steil bergan, wir schwitzten, obgleich wir froren. Um uns eine verheißungsvolle Schneedecke, unter der, wie bei einem Adventskalender, Lebkuchenherzen verborgen sein mochten, Rauschgoldengel, Spielzeug und Strohsterne. Kinderwünsche, Illusionen, Erwachsenenglück.
    Wir stiegen keuchend unter den fallenden Flocken weiter empor, erdrückt von Verheißung. Die Welt lag unter Milliarden von Sternen begraben, Schneesternen, Aberwitz. Die Tiefe hinter den Flocken eine bestürzende Fülle, aus der die Kristalle wie ausgeleert fielen; eisige Oberflächen, filigran und kurzlebig,
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