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Die Sonnenposition (German Edition)

Die Sonnenposition (German Edition)

Titel: Die Sonnenposition (German Edition)
Autoren: Marion Poschmann
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Kugeln in ihren weichen kastanienrunden Mäulern verschwinden lassen. Ich sehe mich selbst ein Eichhörnchen füttern. Es frißt mir Bucheckern aus der Hand, krallt sich mit seinen langgliedrigen Vorderpfoten an meinem Fingerfest. Ich sehe die Eltern in ihren Jugendkleidern, erinnere mich an ihren gemeinsamen, eng umschlungenen, ausschweifenden Gang, höre sie sagen: Daran kannst du dich gar nicht erinnern. – Doch leidet man nicht, höre ich mich zu Odilo sagen, nur allzuoft an Erinnerungen, die nicht die eigenen sind? Seltsame Versehrungen, die wir auf nichts zurückführen können, ein wiederkehrendes Unbehagen, für das wir vergeblich Gründe suchen – vom Durchdringen eines Bildes werden wir mit einem anderen abgelenkt.
    Ich stelle mir vor, wie Odilo nachts aufsteht, sich mechanisch anzieht, die Kleider vom Vortag, die über dem Stuhl hängen, ich stelle mir vor, wie er sein Zimmer durchquert, ohne irgendwo anzustoßen, die Treppe hinabsteigt, ohne zu stolpern, den Autoschlüssel vom Haken nimmt und das Haus verläßt. Wie es ihm gelingt, seinen Wagen zu starten, die tausendmal geübten Bewegungen auszuführen, Bewegungen, die er auch im Schlaf kann, nur das Licht zu bedienen, vergißt er.
    Schlafwandeln, sage ich zu Odilo, schlafwandeln und dann ohne Licht fahren, das kann natürlich nicht gutgehen.
    Es ist, sage ich zu Odilo, für einen Erlkönig doch eine Provokation.
    Am Himmel rasen verwüstete Wolkenordnungen, durch die immer wieder die Sonne bricht, unrealistisch gestaffelte Bewölkung, die sich treppenförmig in die Höhe schraubt, sich überstürzende Brunnen vor ausrasiertem Hintergrund, Brunnen, deren Ausguß verstopft ist, die überlaufen und alles überschwemmen. Ich bemerke eine besonders unglaubwürdige, nämlich wie ein Plattenbau geformte Wolke, ich bemerke kleine Flämmchen auf Geburtstagskuchen, dann einen weißen Lichteinfall, wie wenn ich den Kühlschrank öffne: Ich verharre im Licht meines vollkommen leeren Kühlschranks und träume von Männern in Trainingshosen, ich stehe im Licht meinesvollkommen leeren Kühlschranks und träume von dem, was Männer in Trainingshosen tun. Ich betrachte die getürmten Wolken, die zu voluminös sind, denke ich, für diese Jahreszeit. Ich starre sie an wie die Buchstabentafel beim Augenarzt, auf der die Buchstaben zunehmend kleiner werden – ab wann kannst du nichts mehr entziffern? Meine Augen sind tadellos. Ich lese noch Buchstaben von einer Tafel ab, auf der nichts mehr steht.
    Plötzlich sieht man die sonst unsichtbaren Bewegungen der Winde; Pflanzen weichen zur Seite, geben der Brise nach, geben Wege frei.
    Frau Dr. Z. kommt mir entgegen, ich sehe sie überscharf, etwas, ihre Halskette, ihre Knöpfe, ihre Gürtelschnalle vielleicht, wirft Reflexe zurück, löst ihre klaren Konturen an einigen Stellen in diese übermäßige, sich überschlagende Schärfe auf; auch ich glänze, denke ich, und erscheine ihr unscharf, aber es stimmt nicht, denke ich weiter, ich habe die Sonne im Rücken und erscheine ihr als schwarzer Mann.
    Ich gehe weiter auf sie zu. Als wir auf einer Höhe sind, tätschelt sie mich am Oberarm. Sie beklopft mich und nickt, etwas gönnerhaft, wie mir vorkommt: Wissen Sie was, Sie sollten ins Dorf ziehen. Bei uns nebenan wird ein Haus frei. Ich nicke ebenfalls, nicke ernsthaft, straffe mich, versuche noch einmal den seriösen Weißkitteleffekt zu erzeugen, aber ohne daß ich es wollte, sage ich: Nein, ich bleibe. Sage es etwas zu schroff. Sage es so still für mich, so innerlich, daß sie es vermutlich nicht hört.
    Sie sollten ins Dorf ziehen, sagt Frau Dr. Z. zu mir. Am Ende der Hauptstraße sei auch eine Wohnung neu zu vermieten. Sie habe die Entrümpelungsfirma anrücken sehen. Die Erben deralten Dame beabsichtigten nicht, die Räumlichkeiten selbst zu nutzen.
    Ich nicke bedächtig und lächele ärztlich, wie sie es mir beigebracht hat. Frau Dr. Z. verschränkt die Arme.
    Im Dorf wäre ein kleines Haus zu haben, sagt Frau Dr. Z.
    Mit Garage? frage ich.
    Der Besitzer ist in den Westen gegangen, Arbeit suchen.
    Ich nicke. Ich bin hypnotisiert von ihrem Kettenanhänger, einer goldenen Kaffeebohne, die sich mit ihrem Atem hebt und senkt.
    Woher haben Sie das, frage ich. Ich weiß nicht, ob ich es innerlich frage.
    Sie sollten ins Dorf ziehen, sagt Frau Dr. Z.
    Danke, sage ich.
    Dann schieben sich die Wolken weiter, ein unmerklicher Ruck geht durch das Gelände, über die Wege drängen vom Wind in die Länge gezerrte, japonisierende
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