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Die Sonnenposition (German Edition)

Die Sonnenposition (German Edition)

Titel: Die Sonnenposition (German Edition)
Autoren: Marion Poschmann
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sie kurz darauf zu flackern und zu tropfen beginnen. Hefte mit Weihnachtsliedern klappen auf und zu, wieder auf. Lippen formen sich zu einem O, zu einem Kußansatz, ziehen sich in die Breite. Im Schlußbild sieht man mich zwischen den Eltern und Tante Sidonia, ich halte die Noten und erstarre in Gesang, man sieht mich im Schlußbild mit leidenschaftlich offenem Mund.
    In diesem Jahr fiel meine Schwester aus, sie hatte andere Verabredungen getroffen, und ich mußte allein die Kinderrolle übernehmen. Normalerweise sangen wir fünfstimmig Weihnachtslieder, diesmal sangen wir zu viert, und wir gaben uns Mühe, einander nicht merken zu lassen, daß meine Schwester nicht dabei war.
    Mit Freunden unterwegs, hatte Tante Sidonia gezischt, und vor Entrüstung überschlug sich ihre Stimme noch Minuten später, mitten im Lied.
    Sie ist erwachsen, wir können ihr keine Vorschriften machen, hatte meine Mutter entschuldigend gemurmelt und vorgeschlagen, meine Schwester wenigstens anzurufen, aber dann bemerkten wir, daß niemand genau wußte, bei welchen Freunden sie eigentlich war. Kurz darauf rief Mila selbst an, teilte mit, sie hätten die Feier bereits hinter sich, die Geschenke, die Lieder, und wir sprachen ein wenig mit ihr über ein neutrales Thema, den Schnee.
    Ausnahmsweise hatte es in unserer Region über die Feiertage geschneit. Der Schnee lag auf den Fensterbrettern und zog sich mit parabelhaftem Schwung an den Scheiben hoch. Von innen sah man, wie er das Glas an den Rändern eintrübte und nur ein gefiltertes, zauberhaft bläuliches Licht durchließ. Ich ließ mir den Hörer reichen und erinnerte Mila, daß wir früher manchmal Sprühschnee verwendet hatten, um diesen Effekt zu erzielen, widerliche Plastikkrümel, die aus der Düse stoben und an der Scheibe klebten und sich später nur mit Mühe wieder entfernen ließen, scheußlicher Kunstschnee, der aber von weitem heimelig wirkte, weil er trotz warmer Räume nicht die Form verlor. Indoorschnee, sagte Mila, moderner Unrat, und wir legten rasch auf. Indoorschnee. Ich benutzte damals Schablonen, um Sterne auszusparen, durchsichtige fünfzackige Sterne, von einem Strahlenkranz aus weißen Plastikfetzchen umhaucht.
    Wir lehnten uns bedrückt zurück, mein Vater füllte unsere Gläser nach, wir aßen Weihnachtsgebäck.
    Wir lungerten im Wohnzimmer in der Sitzgruppe, die ihre Position in all den Jahren nicht im geringsten verändert hatte, links vom Sofa die Fensterbank mit dem Christstern, den Alpenveilchen und Azaleen, daneben die Terrassentür mit dem Hebel und dem kleinen Knauf. Rechts die geschmückte Blautanne, sehr viel Lametta, silberne Kugeln und eine silbrig aufragende Spitze.
    Wir tranken Glühpunsch und rieben die knirschenden Kandisbrocken der Printen zwischen den Zähnen, als kauten wir auf Juwelen. Knüppelharte Kräuterprinten, die man in ein heißes Getränk eintauchen mußte, um überhaupt hineinbeißen zu können. Aachener Printen, die das Aachen Karls des Großen in sich zu beschließen schienen, die karolingische Pfalzkapelle, auch die romanischen Kirchen des Rheinlandes, die Ottonen, die Kaiserkrone mit ihren goldgefaßten geschliffenen Edelsteinen, den ätherischen Farben, all das aßen wir mit der Hartprinte, und mir kam es vor, als sei sie nur deshalb so hart, um die Zeit besser speichern zu können, und als leiste sie nur deshalb so großen Widerstand, um uns in unserer Lebensmittelmüdigkeit noch einmal an das Glücksversprechen orientalischer Gewürze zu erinnern.
    Zimtstangen, Gewürznelken, Sternanis. Ingwer, Koriander, schwarzer Pfeffer, Muskatnuß. Pottasche. Hirschhornsalz. Honig und Zitronat. Vanillestange. Brauner Rum. Ein Fläschchen mit Bittermandelaroma. Kakaopulver und Zuckerguß. Puderzucker, silberne Zuckerperlen, Hagelzucker: Wir aßen das Mittelalter und die Neuzeit, aßen Barock und Aufklärung, Reste alter Handelswege und der Kreuzzüge, aßen die Gepflogenheiten der Jahrhunderte und schließlich eine übersüße Gegenwart, die man zu Weihnachten durch persönlichen Verzehr dem Heiland opferte.
    Meine Tante nahm zwei Spekulatius aus der Gebäckschale und legte sie vor sich auf die Serviette, sie deckte die Bildseiten auf, zwei Kärtchen eines Memoryspiels. Sie hatte einen Elefanten gezogen, dazu einen Müller. Seufzend biß sie in den Elefanten hinein.
    Gebildbrote. Tronien. Aufdecken. Zudecken.
    Meine Tante nippte am Glühpunsch und kaute schweigend, mit inneren Bildern befaßt.
    Aufdecken: Fahrten mit dem Pferdeschlitten zur
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