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Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra (German Edition)

Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra (German Edition)

Titel: Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra (German Edition)
Autoren: Robin Sloan
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kupferfarbenes Haar und Ohren, die lotrecht zu seinem Kopf abstehen. In einem anderen Leben wäre er Footballspieler oder Mitglied einer Rudermannschaft gewesen, oder er hätte beim Klub nebenan zwielichtigen Gentlemen die Tür gewiesen. In diesem Leben ist Oliver Doktorand der Archäologie in Berkeley. Oliver macht eine Ausbildung zum Museumskurator.
    Er ist still – zu still für seine Körpergröße. Er spricht in knappen, einfachen Sätzen und scheint ständig über an dere Dinge nachzudenken, Dinge, die in zeitlich un d /oder räumlich weit entfernten Sphären liegen. Olivers Tagträume handeln von ionischen Säulen.
    Er hat ein immenses Wissen. Eines Nachts habe ich es mal getestet, mit einem Buch namens The Stuff of Legend, das ich unten aus Penumbras kleiner Abteilung für G ESCHICHTE hervorgezogen hatte. Ich habe die Bildunterschriften mit der Hand verdeckt und ihm nur die Fotos gezeigt:
    »Minoisches Stier-Totem, 1700 vor Christus«, rief er mir zu. Korrekt.
    »Basse-Yutz-Krug, 450 vor Christus. Vielleicht 500.« Stimmt.
    »Dachziegel, 600 nach Christus. Müsste koreanisch sein.« Stimmt wieder.
    Am Ende des Tests hatte Oliver von zehn Fragen zehn richtig beantwortet. Ich bin überzeugt, dass sein Gehirn schlicht auf einer anderen Zeitskala läuft. Ich kann mich kaum entsinnen, was ich gestern zu Mittag gegessen habe; Oliver dagegen kann einem mühelos sagen, was sich 1000 vor Christus ereignete und wie alles damals aussah.
    Darum beneide ich ihn. Im Moment noch sind Oliver und ich gleichberechtigte Kollegen: Wir haben genau den gleichen Job und sitzen auf genau demselben Stuhl. Aber bald, sehr bald, wird er sich signifikant weiterentwickeln und einen deutlichen Sprung nach vorn machen und mich weit hinter sich lassen. Er wird einen Platz in der richtigen Welt finden, weil er etwas gut kann – und zwar etwas anderes, als in einer einsamen Buchhandlung Leitern hochzuklettern.
    Jeden Abend um 22 Uhr kreuze ich im Laden auf und finde Oliver hinter dem Schreibtisch vor, immer in ein Buch vertieft, immer mit einem Titel wie Terrakotta  – Behandlung und Pflege oder Atlas der Pfeilspitzen des präkolumbianischen Amerika . Jeden Abend klopfe ich auf das dunkle Holz. Er schaut auf und sagt: »Hey, Clay.« Jeden Abend nehme ich seinen Platz ein und wir nicken uns zum Abschied zu wie Soldaten – Männer, die die Situation des anderen ohne Worte verstehen.
    Wenn meine Schicht endet, ist es sechs Uhr früh, eine ungemütliche Zeit, um in die Welt hinausgeschickt zu werden. In der Regel gehe ich nach Hause und lese oder mache Videospiele. Ich würde sagen, um zu entspannen, nur ist die Nachtschicht bei Penumbra nicht wirklich eine Arbeit, von der man sich erholen müsste. Darum schlage ich meistens nur die Zeit tot, bis meine Mitbewohner aufstehen.
    Mathew Mittelbrand ist unser residierender Künstler. Er ist spindeldürr, hat einen blassen Teint und führt ein unregelmäßiges Leben – noch unregelmäßiger als meins, weil es unvorhersehbarer ist. Oft muss ich morgens gar nicht auf Mat warten; stattdessen komme ich heim und stelle fest, dass er die ganze Nacht auf war und an seinem jüngsten Projekt gewerkelt hat.
    Tagsüber (mehr oder weniger) arbeitet Mat an Spezialeffekten für Industrial Light and Magic im Presidio Park und stellt Filmrequisiten und -kulissen her. Er wird dafür bezahlt, Lasergewehre und verwunschene Schlösser zu entwerfen und zu bauen. Aber – und das finde ich sehr beeindruckend – er macht das ohne Computer. Mat ist Teil des aussterbenden Völkchens von Special-Effects-Künstlern, die immer noch mit Messer und Klebstoff arbeiten.
    Wann immer er nicht bei ILM ist, arbeitet Mat an irgendeinem eigenen Projekt. Er geht dabei mit einer irrsinnigen Intensität ans Werk, wirft die Zeit ins Feuer, als wäre sie trockener Zunder, verzehrt sie total, verheizt sie. Er hat einen leichten, kurzen Schlaf, den er oft auf einem Stuhl hält oder in einer pharaonenhaften Ruhestellung auf dem Sofa. Er ist wie der Geist aus einem Märchenbuch, ein kleiner Dschinn oder so was, nur dass sein Element statt Luft oder Wasser die Fantasie ist.
    Mats jüngstes Projekt ist sein bisher größtes, und bald wird für mich und das Sofa kein Platz mehr sein. Mats jüngstes Projekt erobert peu à peu das Wohnzimmer.
    Er nennt es Matropolis, und es besteht aus Kisten und Büchsen, Papier und Schaumstoff. Es ist eine Modelleisenbahn ohne Eisenbahn. Die Topografie darunter besteht aus lauter steilen Bergen aus
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