Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die siebte Maske

Die siebte Maske

Titel: Die siebte Maske
Autoren: Henry Slesar
Vom Netzwerk:
alles.«
    »Nein!« schrie sie ihm ins Gesicht.
    »Sehen Sie doch, wie Ihre Hände zittern –«
    »Herrgott!« rief Adrienne. »Warum müssen Sie mich so quälen? Warum?«
    »Ich weiß sonst keinen Weg.«
    »Sie bringen mich um! Sie bringen mich um!« Sie war nahe daran, hysterisch zu werden. Sie wandte sich ab und ging zum Schreibtisch. Als sie sich wieder umdrehte, glitzerten ihre Augen noch mehr als vorher, sie funkelten vor Wut. Und noch etwas glitzerte an ihr. Mike sah nicht, was es war, bis sie den Arm hob und ein metallisches Aufblitzen auf seine Brust hinabstieß. Er blockierte es mit der linken Hand, traf ihren Arm so hart, daß die Schere quer durchs Zimmer flog und gegen die Wand gegenüber klirrte.
    Sie schauten beide auf den Gegenstand, der beinahe zur Mordwaffe geworden wäre, und der Schock der Erkenntnis schien Adrienne zu ernüchtern. Vielleicht hätte sie etwas gesagt, aber ein anderes Geräusch drängte sich vor. Jemand drehte am Türknauf.
    »Adrienne?« sagte ihr Vater draußen. »Bist du da drin, Liebling?«
    »Daddy!« rief sie. Sie rannte zur Tür, und diesmal ließ Mike sie gewähren. »Daddy, hilf mir, hilf mir!« schluchzte sie und fingerte am Schloß herum.
    »Adrienne! Was ist denn?«
    »Daddy, bitte! Es ist Mike Karr – er hat mich hier eingesperrt –«
    Kyle pochte an die Tür, hämmerte wütend drauflos.
    »Lassen Sie sie heraus! Hören Sie mich? Lassen Sie meine Tochter in Frieden!«
    Mike seufzte und ging zur Tür. Adrienne war nicht fähig, aufzusperren, also half er ihr.
    Die Tür ging auf, und Adrienne flog in die Arme ihres Vaters wie ein Kind mit gebrochenem Herzen.
    »Ach, Daddy«, wimmerte sie, »er weiß alles, alles, er weiß es, er weiß es.«
    »Sie müssen versuchen, mich zu verstehen«, bat Eldon Kyle. »Ich habe Ihnen erzählt, was für ein Mensch ich bin, daß ich meiner Familie gegenüber versagt habe, wie viele Fehler ich in meinem Leben gemacht habe. Als Adrienne zu mir kam, nachdem sie in New York die Hölle durchlebt hatte, konnte ich sie nicht abermals im Stich lassen. Ich wollte ihr helfen, wollte sie für all den Kummer entschädigen, den ich ihr zugefügt hatte, wollte diesen neuen Schmerz lindern, den sie sich selbst zufügte …«
    »Sie meinen die Rauschgiftsucht«, sagte Mike.
    »Ja. Mein kleines Mädchen war süchtig geworden. Können Sie sich vorstellen, wie mir zumute war? Ich war Arzt, ich wußte, was Rauschgiftsucht bedeutet, bis zu welchem Grad sie einen Menschen zerstören kann. Adrienne war in der Großstadt zermürbt worden – so war es passiert.«
    »Haben Sie nicht versucht, sie zu heilen? Haben Sie sie nicht in ein Sanatorium geschickt?«
    »Ich habe es versucht. Sie war schwierig zu behandeln. Sie wollte keine Entziehungskuren, sie wollte in Ruhe gelassen werden. Ich wollte sie zur Aufgabe des Giftes zwingen, aber die Entwöhnungssymptome waren so schrecklich – ich konnte nicht mitansehen, wie sie litt. Ich war schwach – ich habe nachgegeben …«
    »Sie haben ihr verschafft, was sie brauchte«, sagte Mike tonlos.
    »Ja. Ich habe sie damit versorgt. Ich konnte mir Opiate ganz leicht beschaffen; sie brauchte sich nicht mit Händlern abzugeben, mit Verbrechern einzulassen. Ich habe ihr das Zeug geliefert, solange ich konnte.«
    »Und auf diese Art haben Sie ihr ›geholfen‹?« fragte Mike ungläubig. »Haben Sie sich wirklich eingebildet, ihr einen Gefallen zu tun?«
    »Ich war schwach. Ich war feige. Ich habe sie so geliebt, mein kleines Mädchen – wenn sie nur glücklich war, wenn sie nur nicht leiden mußte, und sei es auch mit der Hilfe von Rauschgift … Ich wußte mir keinen anderen Rat.«
    Er hielt inne, und Mike mußte ihn zum Weitersprechen auffordern.
    »Aber dann«, fuhr Kyle fort, »geriet ich in Schwierigkeiten. Die Ärztekammer veranstaltete eine Umfrage, die sich mit dem erhöhten Rauschgiftverkauf befaßte. Man hatte einige Ärzte beschuldigt, Süchtige aus ihrem Patientenkreis zu beliefern. Es kam zu einer Untersuchung, und dabei erfuhr man auch von meinem eigenen Bedarf. Ich konnte die Verdachtsmomente nicht durch das Vorlegen der von mir ausgefertigten Rezepte entkräften …«
    »Haben Sie Ihre Zulassung verloren?« fragte Mike.
    »Nein. Es kam nie zur Verhandlung. Ich habe mich einfach aus dem Berufsleben zurückgezogen. Ich wollte der Schmach nicht ins Auge sehen, und ich wollte auch die Krankheit der armen Adrienne nicht öffentlich bekanntwerden lassen. Also habe ich meine Praxis einfach aufgegeben. Damals
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher