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Die Shakespeare-Morde

Die Shakespeare-Morde

Titel: Die Shakespeare-Morde
Autoren: Jennifer Lee Carrell
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friedlich aus, wie es sich um die St.
     Pauls Cathedral schmiegte - die Kuppel lugte hervor wie ein leuchtendes Ei
     aus einem riesigen Daunennest. In der letzten Stunde war ein stetes
     Rinnsal von Spaziergängern auf dem Weg unter mir vorbeigekommen. Doch
     keiner von ihnen hatte mich eines Blickes gewürdigt oder war mit Ros’
     selbstbewussten Schritten durch das Gras heraufgekommen. Wo blieb sie?
    (Und was erhoffte sie sich?
     Niemand, der einigermaßen bei Sinnen war, käme auf die Idee,
     dass ich die Regie des ›Hamlet‹ am Globe aufgeben würde.
     Ich war noch keine dreißig, Amerikanerin und
     Literaturwissenschaftlerin, was mich wahrscheinlich zum toxischen
     Gegenteil dessen machte, was sich die Götter der britischen
     Theaterwelt als idealen Kandidaten für die Regie erträumten. Das
     Angebot, ›Hamlet‹ zu übernehmen - der edelste Stein in
     der Krone des britischen Theaters -, war ein Geschenk des Schicksals
     gewesen, das an ein Wunder grenzte. Ich hatte die Nachricht des
     Intendanten des Globe immer noch auf meinem Anrufbeantworter gespeichert.
     Jeden Morgen spielte ich mir seine manische, abgehackte Stimme vor, nur um
     mich zu versichern, dass ich nicht alles
     geträumt hatte. Ich war in einer Lage, wo es mir vollkommen egal sein
     konnte, ob Ros’ Schachtel die Landkarte von Atlantis oder den Schlüssel
     zur Bundeslade enthielt. Nicht einmal Ros, die Königin der
     Egozentrik, konnte erwarten, dass ich meinen Titel »Master of Play«
     gegen irgendein Geheimnis eintauschte, sei es groß oder klein, das
     sie mir anvertrauen wollte.
    In drei Wochen war Premiere.
     Zehn Tage später stand mir der schlimmste Teil des Theaterlebens
     bevor: Als Regisseurin würde ich die Zügel aus der Hand geben müssen,
     mich vom Team und von den Schauspielern trennen und hinausschleichen - und
     die Show den Schauspielern überlassen müssen. Falls ich bis
     dahin kein Anschlussprojekt fand.
    Die Schachtel auf meinem Schoß
     glänzte im Abendlicht.
    Ja, aber nicht jetzt, könnte
     ich Ros antworten. Ich kümmere mich um dein teuflisches Geschenk,
     sobald ich mit ›Hamlet‹ fertig bin. Falls sie überhaupt
     heute Abend hier erschien, um sich meine Antwort anzuhören.
    Während die Dunkelheit
     in die Stadt kroch wie eine dunkle Flut, flackerten am Fuß des Hügels
     die Laternen auf. Am Nachmittag war es heiß gewesen, doch jetzt war
     es kühl, und ich war froh, dass ich meine Jacke dabeihatte. Als ich
     sie überstreifte, hörte ich plötzlich ein Knacken hinter
     mir in den Büschen. Im selben Moment spürte ich Blicke im Rücken.
     Erschrocken stand ich auf und drehte mich um. Die Dunkelheit hatte bereits
     die Bäume verschluckt, die die Kuppe des Hügels säumten.
     Nichts regte sich bis auf die Wipfel, die im Wind zitterten. Ich trat
     einen Schritt vor. »Ros?«
    Niemand antwortete.
    Ich drehte mich um und suchte
     die Landschaft unter mir ab. Es war niemand zu sehen, doch allmählich
     fiel mir etwas auf, das ich vorher nicht gesehen hatte. Weit unter mir,
     auf der anderen Seite von St. Pauls, stieg eine blasse Rauchsäule träge
     zum Himmel. Mir stockte der Atem. Am Südufer der Themse, jenseits von
     St. Paul’s, befand sich das wiedererbaute Globe Theatre mit seinen
     weiß verputzten Wänden, dem Eichenfachwerk und dem stoppeligen
     Dach aus trockenem Stroh. Wegen der Feuergefährlichkeit war das Globe
     das erste mit Stroh gedeckte Gebäude in London seit dem großen
     Brand von 1666, der vor fast dreieinhalb
     Jahrhunderten die halbe Stadt in Schutt und schwelende Asche gelegt hatte.
    Es musste eine optische Täuschung
     sein. Vielleicht stieg der Rauch an einer Stelle zwanzig Kilometer südlich
     des Globe auf, oder einen Kilometer weiter östlich.
    Die Rauchsäule wurde
     breiter und färbte sich grau, dann schwarz. Dann frischte der Wind
     auf und riss die Schwaden auseinander. In ihrem Herzen blitzte ein
     unheilverkündendes rotes Flackern auf. Hastig schob ich Ros’
     Geschenk in die Jackentasche und lief hügelabwärts. Kaum hatte
     ich den Weg erreicht, begann ich zu rennen.

 
    2
    Auf dem Weg zur Tube rief ich
     jeden denkbaren Bekannten an, der irgendetwas wissen könnte. Doch ich
     hatte kein Glück. Immer wurde ich direkt mit der Mailbox verbunden.
     Dann lief ich die Treppe hinunter, hinein in Londons Unterwelt, wo Handys
     nutzlos waren.          
    In der Eile, pünktlich
     zu meiner Verabredung mit Ros zu kommen, hatte ich meine abendliche
     Routine
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